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von indigenen Deutschsprachigen gemacht werden, sondern auch die Herablassung thematisiert, mit denen Menschen begegnet wird, die eine weitere Sprache erwerben müssen. Jeder, der zu solch einem Lernprozess gezwungen wird, vermag plötzlich seine Auffassung von Welt nicht mehr zu vermitteln. Die zu erlernende Sprache steht dem um Worte Ringenden nur teilweise zur Verfügung, man wird gleichsam wieder zum Kind, das jedes Wort einzeln lernen und den dahinterliegenden Bedeutungshorizont erst ertasten muss. Die gebürtige polnische Autorin Joanna Mieszko, die sowohl in ihrer Muttersprache als auch auf Deutsch schreibt, hat diesen Prozess des schwierigen Spracherwerbs, der mit heftigen Kränkungen verbunden war, folgendermaßen beschrieben: „Ich leide daran, dass ich in dieser Sprache nicht alles sagen kann, was ich denke. Ich leide an einer geistigen Kreislaufstörung. Die Worte werden von den Gedanken nicht mehr mit frischem Sauerstoff aufgeladen. Ich leide an einem permanenten intellektuellen Krampf. Ich bin nichts anderes als ein geistiger Invalide. Und wer meine Worte in falschen Grammatikformen und falschen Betonungen hört, behandelt mich wie eine Invalide. Ich bin so etwas wie eine Blinde, und sollte deshalb in diesem Land am linken Arm eine gelbe Binde tragen mit drei schwarzen Punkten.“!’ Wer die Schwierigkeiten des Spracherwerbs gemeistert hat, Kann sich zwischen den Sprachen und den mit ihnen untrennbar verknüpften Kulturen und ihren Einstellungen bzw. Wertsystemen bewegen. Ein Beispiel für die Verbindung von Orient und Okzident fasste der 1940 im Iran geborene und seit 1959 in Deutschland lebende Abdolreza Madjderey zu dem Gedicht „Sprachnomadenleben“. Wenn die Sprachwolkenzüge meinen Traumhimmel verdunkeln, wenn die Satzbäume entblättert auf Invasion des Winters warten, ziehe ich mit meiner Bibliothek Richtung sonnengetünchtem Süden, überwintere in Rosengärten von Schiraz, trinke mit Hafez, tanze mit Chairyam und schlafe aufhandgewebten Wortteppichen bunt. Dann ... wenn mein Blut zu sieden beginnt, Herz und Hirn zu ersticken drohen, Wortfeldbrandungen sich ausbreiten, habe ich Sehnsucht nach dem milden Tübingen, augustgrünem Dichterstreit und nach Ilse Benn, die mir manchmal von ihrem Gottfried erzählt." Der Migrantenautor Abdulrazak Gurnah, der Tansania verließ und heute in England lebt, unterrichtet und schreibt, gibt zu bedenken: „Wir können Unterschied tolerant und verständnisvoll auffassen, aber die logische Folge davon, dass wir der Kultur Bedeutung durch Unterschied geben, ist, dass der Unterschied bleiben wird, welche Flexibilität auch immer in der Interpretation liegen mag.“ In dem Text sind europäische und außereuropäische literarische Traditionen zu einander ergänzenden Komponenten geworden, verschwunden ist das hegemoniale Gehabe einer ,,Leitkultur“. Steckt also in den Literaturen, die von Migrantenautoren verfasst werden, eine innovative Kraft, die tiber die Zeilen weit hinausgeht? Von der Voraussetzung ausgehend, dass Literatur immer die Gitterstäbe der Welt zeigen kann, in der wir leben, lässt sich mit Einschränkung Ja sagen, wenn man dazu sagt, dass die innovative Kraft auch von den Literaturen ausgeht, die von denen geschrieben werden, die keinen Orts- bzw. Sprachwechsel vollzogen haben. Leidenschaftslos wird man sich von der Vorstellung bis auf weiteres verabschieden müssen, dass es nebensächlich sei, in welcher Sprache geschrieben wird. Wahrscheinlich ist Donners Feststellung zutreffend: „Gern wird behauptet, die europäischen Sprachen seien gleichrangig. Das stimmt nicht. Besonders im Bereich der Literatur führt eine Einbahnstraße von den großen Sprachen zu den kleineren. Vertrautheit mit dem literarischen Erbe Europas setzt die Bekanntschaft mit Montaigne, Goethe, Shakespeare und Cervantes voraus, kaum aber mit der literarischen Tradition Polens. Zuweilen kann die Peripherie das Zentrum beeinflussen, wie das Beispiel James Joyce zeigt, aber auch Joyce hat in einer großen europäischen Sprache geschrieben, ebenso wie Musil und Proust.“ Literaten, die sich nicht dem Sprachwechsel unterziehen wollen, haben es naturgemäß noch schwerer. In Österreich beispielsweise wandte sich der gebürtige Nigerianer Chibo Onyji zum Teil von Englisch ab und verstärkte seine literarischen Aktivitäten in seiner Muttersprache, dem Ibo. In seinem letzten, noch nicht erschienen Gedichtband, beschreibt er Szenen aus dem ihm vertrauten dörflichen Leben. Seine Beweggründe sind klar: Er will als Kulturvermittler auftreten und den Menschen in seiner Wahlheimat seine Herkunft nahe bringen und er möchte vor allem verhindern, dass aus Ibo eine Sprache wird, die keine literarischen Zeugnisse mehr kennt. Uber ihn ware ein eigener Essay zu schreiben, weil er einen einzigartigen Weg gewählt hat. Verbleiben wir bei den Migrantenautoren, die den Sprachwechsel vollzogen haben. Auf sie wartet eine Herausforderung, die fast nicht bewältigbar erscheint. Die Muttersprachlichen brandmarken jede Abweichung von der Grammatik und von gewohnten Sprachbildern gerne als ein Gebrechen, das es auszumerzen gilt. Lerke von Saalfeld benennt die verbreitete Ignoranz, Innovatives als gewollten Bruch mit der Regel zu sehen mit folgender Behauptung: „Ein Arno Schmidt darf die Sprache auf den Kopf stellen, das ist Kunst und Sprachästhetik. Einem Schriftsteller fremder Zunge wird Unvermögen unterstellt.“”' Der 1951 in Chile geborene und mit Unterbrechungen ab dem Jahr 1974 in Deutschland lebende Ivan Tapia Bravo behandelt seinen Spracherwerb in dem Gedicht: Das bin ich mir schuldig Bevor ich ein Wort spreche aus nachdenke ich gründlich darüber Mir soll laufen unter kein Fehler damit ich nicht falle auf vor einem so erlesenenen Publikum als unkundiger Trottel der sich benimmt immer daneben” Den Umgang mit der deutschen Sprache als Spielmaterial, um einen entlarvenden Blick auf die Einstellungen der Muttersprachigen zu werfen, gestattet sich auch Zehra Cirak, die 1960 in der Türkei geboren wurde, im Alter von drei Jahren nach Deutschland übersiedelte, eine zweisprachige Schule besuchte und 1982 aus ihrer Familie flüchtete. Zu ihrer eigenen „Kulturidentität“ stellt sie die Frage: „Ist das etwas, womit ich mich wiedererkenne oder ist das etwas, womit andere mich einordnen können?“ In einem Gedicht behandelt sie die hierarchische Schichtung der Bevölkerungsgruppen: deutsche sprache gute sprache oder die denen ihnen die dienen ihnen jenen dienen die denen dienen denen die dienen die dienen ihnen die verwirr mal nicht” Der gebürtige Brasilianer, nun „maistens in Myncen“ lebende Ze de Rock ist mit seinem Sprachspiel viel radikaler als Ivan Tapia Bravo und Zehra Cirak. Er hat mit seinem Sprachwechsel gleich eine neue Orthographie geschaffen, die er für seine Texte konsequent anwendet: „mit ultradoitsh wer was für di umwelt getan. wenn ma ultradoitsh sraibt, spart ma 10 prozent papir, da es 10 prozent kürza is (di wörta an sic sind noc kürza, aba di lerroime zwishen den wörtan blaiben glaic), sit nic fil aus, aba s gibt hundate fon zaitungen und tausende fon bücan in Doitsland, fon Östaraic und der Swaiz ganz zu swaigen.“” Man mag in seinem „Ultradoitsh‘“ eine Kritik am Orthographiewahn in deutschen Ländern sehen, man mag diesen Umgang mit der deutschen Sprache als eine Kreolisierung empfinden, doch zweifellos steht fest: Z& de Rock hat sich die Sprache angeeignet, um mit ihr zu arbeiten. Seine Stimme ist ein Beitrag, um die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen zu 65