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weiten. In seinem Text öffnen sich für die deutschsprachige Literatur neue Horizonte. Wie sehr die Migranten und deren schreibende Kollegen zu uns gehören, hat Zafer Senocak geboren 1961 in der Türkei, seit 1970 in Deutschland, in einem Gedicht dargelegt: Steine auf meinem Weg vom Himmel gefallen grüßen mich wie Brüder wir gehören hierher und fügen uns nicht mehr wohin die Straße führt werden wir nicht gehen dableiben und treiben von Keimen zur Blüte wie ein Baum wie ein Baum den niemand gezüchtet von niemandem gerufen” Ob Migrantenautoren tatsächlich Kulturvermittler sind, ist eine Frage, die zwei Antworten bekommen kann. Jede von ihnen hätte gute Gründe, die richtige zu sein. Der Einfluss der Autoren auf die Entwicklung Europas ist von untergeordneter Rolle, meint der bereits zitierte finnische Autor Jörn Donner: „Oft wurde ein Gegenbeispiel genannt, nämlich die Stellung Väclav Havels in der Tschechoslowakei — sie beruhte aber nicht primär auf seiner schriftstellerischen Arbeit, sondern auf der ideologischen Dimension seines Handelns und der symbolischen Position, die er als Sprachrohr für eine Veränderung innehatte.“”” Der 1959 in Nigeria geborene Ben Okri, der in London eine bleibende Heimat gefunden hat und sich ausschlieBlich auf Englisch literarisch äußert, meinte von der Chaostheorie ausgehend, „das Flattern eines Schmetterlingsflügels vermöge gewaltige Stürme zu entfachen und auch anzukündigen. Dies sollte auch für die Geschichte gelten. Der sterbende Stern eines Volkes, der stille Tod einer Sprache, das Verglimmen einer Meinung, der endgültige Schrei einer zum Schweigen gebrachten Person könnte etwas um vieles Bedeutenderes ankündigen als nur einen Sturm in der Geschichte der Menschheit.‘ Wenn die Okrische Überlegung stimmt, und ich bin mehr als versucht, sie für richtig zu halten, dann könnten die Migrantenautoren einen behutsamen Beitrag zur Überwindung des Mythos des Homogenitätsprinzips in den meisten europäischen Staaten leisten. Brauchen denn nicht die Verkünder eines Unifizierungsprozesses der angeblich weltweit stattfinden soll, Gegenstimmen, die deutlich sagen: Jede Uniformität ist von Anbeginn an zum Scheitern verurteilt. Und ohne Anregungen, die an den Reibeflächen zwischen den Einstellungen entstehen, wird sich die Kreativität kaum entfalten können. Vielleicht sind Migrantenautoren als Katalysatoren zu sehen, die bei uns einen Identitätspluralismus veranlassen. Sie 66 vermitteln weniger ihre eigene Kultur, sondern leiten bei uns zu einer anderen über. In dieser neuen Kultur wären innere Grenzen geöffnet und ein verlockendes Szenarium böte sich: der Mut sich dem Fremden und den Fremden zu öffnen, die Fähigkeit zum Zuhören zu fördern und Kreativität freizusetzen. Anmerkungen * Sämtliche Begriffe wie Autor, Schriftsteller etc. sind geschlechtsneutral verwendet und sind selbstverständlich jedes Mal als Autorinnen und Autoren, Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu verstehen! 1 Salim Alafenisch: Mein Zelt hat zwei Räume. In: Wir und die Anderen. Islam, Literatur und Migration. Hrsg. von Walter Dostal / Helmuth A. Niederle / Karl R. Wernhardt. WUV-Universitätsverlag. (WBEA 9). Wien 1999. S 250f. 2 Jörn Donner: Europa, vom Rand aus gesehen. In: Europa schreibt. Was ist das Europäische an den Literaturen Europas? Essays aus 33 europäischen Ländern. Hrsg. von Ursula Keller / Ilma Rakusa. edition Körber-Stiftung. Hamburg 2003. S 105. 3 Donner a.a.O., S 112. 4 Brigitta Busch: Sprachen im Disput. Medien und Offentlichkeit in multilingualen Gesellschaften. Drava Verlag. Klagenfurt/Celovec 2004. S 44. 5 Adel Karasholi: Du bist der den du in ihm suchst. In: Also sprach Abdulla. Gedichte. Al Verlag. München 1995. S 32. 6 Ebda, S 95. 7 Reza Ashrafi: Perser. In: Die Fremde in mir. Lyrik und Prosa der österreichischen Volksgruppen und Zuwanderer. Ein Lesebuch. Hrsg. von Helmuth A. Niederle. Verlag Hermagoras/Mohorjeva. Klagenfurt/Celovec — Wien/Dunaj — Ljubljana/Laibach 1999. S 28. 8 Ishraga Mustafa Hamid: Du und Ich. In: Eure Sprache ist nicht meine Sprache. Texte von Migrantinnen in Österreich. Milena Verlag. Wien 2002. S 58. 9 Sonia Solarte: Die Knochen der Entwurzelung. In: Die Wahrheit reicht weiter als der Mond. Europa — Lateinamerika: Literatur, Migration und Identität. Hrsg. von Helmuth A. Niederle / Elke Mader. WUV-Universitätsverlag (WBEA 16). Wien 2004. S 117f. 10 Nahid Bagheri-Goldschmied: ,,Schreiben ist für mich wie Luft, Brot und Wasser“. In: grenzGänger. anthologie. das buch zum literaturpreis schreiben zwischen den kulturen 2001. Hrsg. von Christa Stippinger. edition exil. Wien 2001. 11 Eva Gugenberger: Migration und Sprache. In: Die Wahrheit reicht weiter als der Mond. Europa — Lateinamerika: Literatur, Migration und Identität. Hrsg. von Helmuth A. Niederle / Elke Mader. WUV-Universitätsverlag (WBEA 16). Wien 2004. Ss 70. 12 Gülbahar Kültür: Wozu die Entscheidung? In: Verloren — Gewonnen. Zwischen Sprachfremde und Wortheimat. Erzählungen, Gedichte und Essays von 15 Frauen aus zehn Ländern. Zusammengestellt von Judith Arlt, Renate Jurisch, Regina Ullrich. Hrsg. von LiteraturFrauen e. V. Berlin 2001. S 47. 13 Franco Bondi: Sprachfelder. In: Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der „Ausländerliteratur“. Hrsg. von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich. Piper Verlag. München 1986. S 115. 14 Victor Klemperer: LTI. Lingua Tertii Imperii. Die Sprache des Dritten Reiches. Notizen eines Philologen. Röderberg Verlag. Frankfurt/M. 1975. S301. 15 Sygun Schenck: mein wortheim. In: Verloren — Gewonnen. Zwischen Sprachfremde und Wortheimat. Erzählungen, Gedichte und Essays von 15 Frauen aus zehn Ländern. Zusammengestellt von Judith Arlt, Renate Jurisch, Regina Ullrich. Hrsg. von LiteraturFrauen e. V. Berlin 2001. S 122. 16 Yüksel Pazarkaya: deutsche sprache. In: Der Babylonbus. Gedichte. Dagyeli Verlag. Frankfurt/ M. 1989.87. 17 Joanna Mieszko: Babbeln mit Gott. In: Verloren —- Gewonnen. Zwischen Sprachfremde und Wortheimat. Erzählungen, Gedichte und Essays von 15 Frauen aus zehn Ländern. Zusammengestellt von Judith Arlt, Renate Jurisch, Regina Ullrich. Hrsg. von LiteraturFrauen e. V. Berlin 2001.8 14. 18 Abdolreza Madjderey: Sprachnomadenleben. In: Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der ,,Auslanderliteratur“. Hrsg. von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich. Piper Verlag. Miinchen 1986. S 163. 19 Abdulrazak Gurnah: Literatur: eine durchwachsene Geschichte. In: Friichte der Zeit. Afrika, Diaspora, Literatur und Migration. Hrsg. von Helmuth A. Niederle / Ulrike Davis-Sulikowski / Thomas Fillitz. WUV-Universiatsverlag. (WBEA 10). Wien 2001. S 227. 20 Donner a.a.O., S 107. 21 Lerke von Saalfeld (Hrsg.): Ich habe eine fremde Sprache gewählt. Ausländische Schriftsteller schreiben deutsch. Bleicher Verlag. Gerlingen 1998. S 26f. 22 Ivan Tapia Bravo: Das bin ich mir schuldig. In: In zwei Sprachen leben. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. Hrsg. von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich. dtv. München 1983. S 227. 23 Zehra Cirak: Kulturidentität. In: Viele Kulturen — Eine Sprache. Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträger 1985-1998. Hrsg. von Irene Ferchl. Robert Bosch Stiftung. Katalog anläßlich der Ausstellung: Viele Kulturen — Eine Sprache. Chamissos Enkel zu Gast in Stuttgart 1998. S 27. 24 Zehra Cirak: deutsche sprache gute sprache. In: Viele Kulturen — Eine Sprache. Ebda, S 27. 25 Zé de Rock: fom winde ferfeelt. Edition Dia. Berlin 1995. S 224. 26 Zafer Senocak: Steine auf meinem Weg. In: Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der „Ausländerliteratur“. Hrsg. von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich. Piper Verlag. München 1986. S 145. 27 Donner a.a.O., S 110. 28 Ben Okri: Zwischen schweigenden Steinen. In: Vögel des Himmels — Wege zur Freiheit. Essays. edition KAPPA. München 2000.