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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT

ORP!

TRUST

Mit dem Text des Exposes und dem Erstdruck aller vorberei¬
tenden Notizen.

1934 veröffentlichte der künstlerische Leiter und Dramaturg der
Leningrader Philharmonie, Iwan Iwanowitsch Sollertinsky, ei¬
ne Monographie über Arnold Schönberg.’ Doppelter Anlaß für
die Publikation, eine der letzten Manifestationen des verbrei¬
teten Interesses an Schönberg vor der definitiven Verschärfung
des kulturellen Klimas in der Sowjetunion im Jahre 1936, dürf¬
te der 60. Geburtstag des Komponisten und die Aufführung der
Orchestervariationen op.31 unter dem Chefdirigenten des Or¬
chesters, dem Schönbergschüler Fritz Stiedry, gewesen sein.
Schostakowitsch, von Stiedry gefördert und befreundet mit Sol¬
lertinsky, wohnte allen Proben bei. Nach dem Krieg hat Stiedry
in einer kleinen Festschrift zu Schönbergs 75. Geburtstag von
seiner Einstudierungsmethode und seinen Erfahrungen berichtet.’

Sollertinsky bespricht sehr korrekt und verständnisvoll die
Werke bis zum Pierrot lunaire und berührt wenigstens auch noch
spätere bis op.30 und selbst Moses und Aron — nicht mehr al¬
lerdings die Variationen, die er vermutlich in der eigentlichen
Konzerteinführung vorgestellt hat. Das Büchlein beginnt mit
den Worten: „Die folgende knappe Skizze stellt sich das Ziel,
die elementarsten Angaben zu Leben und musikalischem Wirken
dieses hervorragenden Neuerers der westlichen Gegenwarts¬
musik zu vermitteln“. Dies, und viel mehr, ist Sollertinsky in
erstaunlichem Maße gelungen. Nur einige Sätze daraus als Hin¬
weis auf Horizont und Methode des Buchs:

„so stellt sich uns das schöpferische Antlitz eines der über¬
ragenden Komponisten des Westens dar: widersprüchliche Ele¬
mente des Impressionismus, Expressionismus und Konstruk¬
tivismus verbindend, zwischen dem ,Elementar-UnbewuBten’
und mathematischer Logik schwankend, zwischen meisterlicher
Detailzeichnung des Gefühlslebens und außerpsychologischem
formalem Musizieren. Schönberg ist der überzeugendste Expo¬
nent jener ideologischen Krise, die gegenwärtig die europäische
Intelligenz durchlebt. Subjektiv die kapitalistische Welt verach¬
tend und doch nicht imstande, mit ihr zu brechen, kapselt sich
Schönberg hier in der Phantasiewelt der imaginären ‚hängen¬
den Gärten’* ab und bekennt dabei die Unabhängigkeit der Kunst
vom Leben, verkündet dort das Leiden und das individuelle mo¬
ralische Heldentum in der Art der Expressionisten des Nach¬
kriegsdeutschland, welche die ‚Religion des menschlichen Gei¬
stes’ wiedererweckten. [...] Eine neue Etappe in Schönbergs
Leben beginnt mit Hitlers Machtantritt. Die faschistische Diktatur
mit ihrem Terror gegen die Arbeiterklasse und die linken Schich¬
ten der Intelligenz, mit ihrem barbarischen Antisemitismus und
den Repressalien gegen die progressive Kunst bereitete Schön¬
berg und seinen Gesinnungsgenossen eine — wie sich denken
läßt - starke Ernüchterung. [...] Wir wissen zur Zeit noch nicht,
wie sich die Emigration auf Weltanschauung und Schaffen des
Komponisten ausgewirkt hat: Es ist indes bekannt, daß er die
erbittertste und unversöhnlichste antifaschistische Position be¬
zog. Man darf aber annehmen, daß Schönberg heute Musik und

Politik nicht mehr wie früher für unvereinbar hält. Ob er es je¬
doch vermag, die Bedeutung der sich vollziehenden Ereignisse
bis in die letzte Konsequenz zu begreifen und in seiner Weltan¬
schauung und in seinem Schaffen eine radikale Wende zu voll¬
führen, wird die nächste Zukunft erweisen.‘®

Mit einer guten Nachricht hatte Sollertinsky an früherer Stelle
bereits aufwarten können: „Erst unlängst erhielt der Chefdirigent
der Leningrader Philharmonie, Fritz Stiedry, von Arnold Schön¬
berg ein Schreiben, in welchem er den Wunsch zum Ausdruck
bringt, seinen ständigen Wohnsitz in der Sowjetunion zu neh¬
men.‘“

Tatsächlich existiert ein Brief vom September des Jahres, in
dem es heißt: „Eisler hat mich durch meinen Sohn [Georg] fra¬
gen lassen, ob ich nicht nach Rußland wolle und ich habe ihm
einen Entwurf geschickt zur Entwicklung eines Musikinsti¬
tutes, zur Weiterleitung, die er anbot, an die Behörden. Ich
möchte Sie nun bitten, wenn Sie in die Lage kommen, diese
Sache zu fördern.“ Stiedrys späterer Kommentar: „Das Ganze
ist eine Schnapsidee von Eisler! Damals war Rußland unter der
vollkommen reaktionären Peitsche von Stalin. — Der bei wei¬
tem ungeeignetste Musiker war Freund Schönberg. — / Ich konn¬
te nicht aufrichtig, der Censur wegen, antworten, fand aber
einen Weg durch das deutsche Consulat, ihm deutlich und
absolut abzuraten. Ich habe weiter nichts gehört. — [...]
Schönberg fuhr den nächsten Tag nach Californien‘“ (die Über¬
siedlung nach Hollywood erfolgte im Oktober). Stiedry verließ
einige Zeit später ebenfalls die Sowjetunion und beschloß sei¬
ne Dirigentenkarriere an der Metropolitan Opera.

Daß sein Rat gut war, darf man wohl nach unserer heutigen
Kenntnis der Persönlichkeit Schönbergs und der weiteren sow¬
jetischen Politik ohne Abstriche zugeben. Interessant ist den¬
noch, daß Schönberg, bereits in den USA, jedoch noch an der
Ostküste, wo es ihm gesundheitlich schlecht ging und ein ent¬
sprechender Wirkungskreis sich nicht finden wollte, die Emi¬
gration in die Sowjetunion überhaupt in Erwägung zog, obwohl
er mit Eisler bereits einmal (1926) aus politischen Gründen bei¬
nahe gebrochen hatte. Man wird: im Eisler-Archiv’ und vielleicht
auch in Moskau oder St. Petersburg noch weiter recherchieren
müssen, um herauszufinden, wie weit die Angelegenheit damals
vorangetrieben wurde und welche staatlichen Stellen oder Partei¬
funktionäre damit überhaupt befaßt waren — in einem Brief vom
4. September 1934 bestätigt Eisler Schönberg den Erhalt des
Entwurfs und verspricht, ihn noch am selben Tag nach Moskau
weiterzuschicken.

Schönberg hat wiederholt die institutionellen und organisa¬
torischen Voraussetzungen für erfolgreiche musikalische Lehr¬
tätigkeit bedacht und schriftlich erörtert. Ich nenne nur einige
seiner einschlägigen Texte bzw. pädagogischen Projekte, für die
er seit den Theoriekursen am Sternschen Konservatorium in
Berlin (1902/03) und in den Schwarzwaldschen Schulen in Wien
(1904/05) z.T. aufwendige konzeptionelle Überlegungen an¬
gestellt hat!’: Harmonielehre und Probleme des Kunst¬
unterrichts 1911, Vorträge am Sternschen Konservatorium 1911/

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