OCR
ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT 10b Gesang” 1. Die immensen Säle der letzten 100 Jahre zwangen die Stimmen auf Kosten der Leichtigkeit, der Intonation, des Rhythmus und der Kunst, Melodien zu singen, zu immer größerer Kraftentfaltung. Wenn man heute in großen Räumen musizieren muss, kann man Lautsprecher anwenden. Aber es wäre noch besser das Publicum zu erziehen, dass es noch etwas mehr empfinden lernt, als Unterschiede der Dynamik und dass es Melodien hört. 2. Gleichzeitig aber sank das Niveau des Publikums: darum wurde mehr Gewicht gelegt auf das Verständnis des Textes und der Vorgänge als auf das der Melodien. Aber die Sänger erhielten infolgedessen auch seltener die Aufgabe, Melodien zu singen, denn die meisten Komponisten besassen nicht genug Formsinn um aus dem Wort heraus Melodien zu schaffen. 3. In der Kunstmusik ist — infolge der Entwicklung der Instrumentalmusik — seit langem, seit Palestrina und den Niederlandern — der Gesang nicht mehr eine erhöhte Text-Recitation, sondern ein Instrument, wie jedes andere, dem Aufgaben der Koloratur zugeteilt werden wie jedem anderen Instrument. Prinzipien der Stimmbildung 1. Es kann keineswegs behauptet werden, dass die wissenschaftlichen Stimmbildungsmethoden eine Verbesserung des Gesangsunterrichts erzielt haben. Fast folgt 15 15 möchte man das Gegenteil behaupten. Und bestenfalls ist es dabei geblieben, dass es Stimmen gibt die das Singen und den Gesangsunterricht überleben und solche, die an dem eine[n], dem anderen oder an beiden zugrunde gehen. Das aber scheint naturgegeben, schicksalhaft zu sein. Und deshalb glaube ich, dass im Gesangs[-]Unterricht folgendes zu unterlassen ist: 1. Entwicklung, Steigerung der Tonstärke. 2. Uebermäßige Entwicklung des Volumens einzelner Register (insbesondere der Höhe bei Sopran und Tenor, der Tiefe beim Alt. 3. Uebermäßige Entwicklung eines modischen Timbres (dunkel etc) 4. UVebermäßig[e] Entwicklung des Umfanges, sofern es sich um Forte handelt. Dagegen ist anzustreben 1. Gleichklang aller Register. 2. Unmerkliche Uebergänge. 3. Größte Leichtigkeit der Tongebung, ohne Rücksicht auf besondere Kraftentfaltung. 4. Modulationsfähigkeit 5. Die Fähigkeit die Töne (nicht unmäßig) anschwellen und abnehmen zu lassen. 6. Möglichst weite Ausdehnung der „unforcierten“ Register, der [15v] Mittelstimme, der Kopfstimme, des Brustfalsetts. Sparsamste Benutzung der Bruststimme. 7. Atemtechnik 8. Vollendetes Legato ORPHEUS TRUST 9. Absolute Reinheit der Intonation 10. Absolute Sicherheit in der Intonation aller Arten von Intervallen und Intervallfolgen. 11. Fähigkeit schnelle Noten mit und ohne Text sowohl staccato als auch mit vollkommenem Legato zu bringen. 12. Fähigkeit die Konsonanten so rasch (und dennoch charakteristisch) zu sprechen, das[s] sie nur einen unmerklich[en] Teil des klingenden Tons wegnehmen. 13. Die Fähigkeit die Vokale so charakteristisch zu färben, dass an der Deutlichkeit der Textaussprache nichts verloren geht. 14. Die Fähigkeit „Melodien zu singen“ nicht einzelne mehr oder weniger schöne Töne, die miteinander keinen Zusammenhang haben. 15. Die Fähigkeit jedem noch so kurzen Ton volles klangliches Volumen zu verleihen. folgt 16 16 16. Die Fähigkeit ausser den „tonalen Vokalisen“ auch moderne ,,nontonale“ rein zu intonieren. 17. Blattsingen, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. 18. Festen Rhythmus. 19. Die Fähigkeit nach dem Taktstock zu singen und seinen Vortrag innerhalb des durch den Dirigenten resp. durch die musicierende Umgebung gegebenen Tempos zu gestalten. Die vorgenannten Anforderungen sollten am besten durch einen Gesangslehrer allein erfüllt werden können. Mutmaßlich aber wird es notwendig sein, verschiedene der gestellten Aufgaben andern Ressorts zuzuweisen. 10c Chorschule Der Besuch der Chorschule ist für alle Schüler ohne jede Ausnahme obligatorisch (soweit nicht etwa unüberwindliche physiologische Hindernisse vorliegen) Jeder Musiker muss imstande sein einen perfekten Chorsänger abzugeben. Es sollte kein Musiker das Reifezeugnis erhalten, der nicht eine gewisse (festzusetzende) Mindestfertigkeit im Blattsingen (oder -Pfeifen) besitzt. In der Chorschule sollte angestrebt werden von jedem Einzelnen annähernd dasselbe zu verlangen, was der Solo-Sänger zu leisten hat. Der Unterschied sollte nur in der Schönheit der Stimme und der specifischen Begabung liegen. Tonhöhe halten. Reine Intonation Kenntnis der Akkorde und der deutungsfähigen (unreinen) Töne Die Chorsänger-Schule hat den Zweck Berufs-Chorsänger für Konzert und Theater heranzubilden; perfekte Blattsänger die einigermaßen geübtes absolutes Gehör besitzen. Repertoirekenntis: Opern, Konzertmusik. Stimmlich technische Ausbildung nach dem Muster der Solisten — entsprechend reduziert — Ausbildungsziel: Schlagfertigkeit wie die eines gutgeschulten Orchesters, d.h. die Fähigkeit mit einer geringen Zahl von Proben ein Werk (grob) singen zu können. 73