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ORPHEUS IN DER ZWISCHENWELT lich nur Uebung bedeuten, aber es soll ihm die Augen öffnen über die Möglichkeiten, ohne Variierung des Rhythmus’ und der Harmonie aus einer Grundgestalt neue Klangbilder zu gewinnen. In diesem Sinn — wenigstens — hat der Kontrapunkt Vorschule für die Technik der „entwickelnden Variation“ zu sein die in der Formenkunst der Hauptstimmen-Musik das treibende Prinzip bildet. Art und Lehrziele des Kompositions-Unterrichts auch nur zu skizzieren würde den Rahmen dieses Exposes bei weitem überschreiten. Es sei darum hier nur folgendes gesagt: Die Hauptstütze des Unterrichtes wird die Analyse von Meisterwerken sein, mit dem Zweck den Formenreichtum genauest kennen zu lernen über den die Musik bis heute verfügt (und den Schüler in die Lage zu versetzen, stets unschematisch zu denken, sondern sich der zahllosen Hilfsmittel zu bedienen zu deren Erkennt[nis]- und Anwendungsmöglichkeit die Analyse ihm verholfen hat [)]. Die Instrumentationslehre zerfällt nach meiner Definition in Satzkunst (die Kunst 2 oder mehrere Stimmen zu einem gut und charakteristisch-klingenden Gewebe zu vereinigen) und Setzkunst (die Kunst die Stimmen für die richtigen Instrumente zu setzen) Soweit es sich aber um produktive Talente handelt, sollte die Setzkunst nur ein[e] untergeordnete Rolle spielen, die eines Hilfsmittels, der Schüler aber dazu erzogen werden unmittelbar für Orchester zu erfinden statt nachträglich zu instrumentieren. 21 EXPOSE [B] Ich schlage hiemit vor, ein großes Musik-Institut zu errichten, welches unter Benützung des Besten an ueberliefertem Können und Wissen den Zweck hat, die Schüler nicht nur an die modernste Musik heran zu führen, sondern auch sie zu befähigen mit positivem Können, mit Verstand und Mut sowohl, als auch mit Maß und Charakter an der Weiterentwicklung der musikalischen Kunst zu arbeiten. Die Mittel die diesem Institut zur Verfügung gestellt werden, sollten es befähigen der Welt ein Vorbild zu geben und sollten es instand setzen, Schüler, Talente aus der ganzen Welt heranzuziehen. Zu diesem Zweck sollte dieses Institut fern vom Großstadtbetrieb, unabhängig von dessen Hast, von desse[n] immerwährende[m] modischen Wechsel, von all dessen ungeistiger Betätigung gelegen sein. Am geeignetsten schiene die Umgebung einer mittleren Großstadt (80.-120.000 Einwohner) in einem südlichen, gleichmäßigen Klima, welches stetiges durch keine Gesundheitsschwankungen (Sänger!) gestörtes Arbeiten gestattet und 22 dadurch gleichzeitig einen Anreiz auf ausländische Schüler ausübte. Am besten gleichsam eine etwa 2 — 3 Kilometer von der Stadt entfernte neu anzulegende Vorstadt, welche gute Verbindung mit der Stadt besitzt. Unter der Voraussetzung, dass genügend Geld zur Verfügung steht, würde ich vorschlagen, das ganze Institut als „quasiInternat“ anzulegen, mit einer Disciplin, wie sie in Kadettenschulen üblich ist. Unter allen Umständen müssen mindestens Uebungsbühnen, Probesäle, Konzertsäle in genügender Anzahl ORPHEUS TRUST und Größe vorhanden sein. Im Falle des Internats aber sollte das Institut ein wirklich voll betriebsfähiges Theater und einen großen Orchesterkonzertsaal ausserdem besitzen. Vielleicht wäre für später auch ein Festspielhaus in Erwägung zu ziehen. Dann würden, ausser den Verwaltungsgebäuden, die Wohngebäude und Uebungsräume für Lehrer und Schüler, Wohnungen für Beamte, Arbeiter und Handwerker nötig sein und eine modernste reichliche Anlage von Sportplätzen für alle modernen Zwecke. Alle Anlagen sollten so eingeteilt werden, dass niemand den andern durch Musizieren stört. 23 23 22 Falls ein Internat zunächst nicht errichtet würde, müsste Vorsorge dafür getroffen werden, dass die Schüler ihre Arbeitsplätze rasch erreichen können. Was von meinem Hauptvorschlag vorläufig oder überhaupt weggelassen werden darf, ergibt sich ja von selbst. Schüleraufnahme Es sollen nur wirklich Begabte aufgenommen werden, und diese nur auf Widerruf (wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen). Aber es wird Aufgabe der Lehrer sein unschematisch, unorthodox, vorurteilsfrei und mit äusserster Sorgfalt die Begabung von allen Seiten zu prüfen und dabei zu bedenken, dass sich Begabung oft anfangs sehr unvollkommen äußerf[t]. Jedenfalls ist es ein geringeres Risiko, einen weniger Begabten aufgenommen, als ein Genie abgewiesen zu haben. Es können auch Anfänger aufgenommen werden, da ja die Grundlegung besonders wichtig ist. Aber es wird sich höchstens bei Sängern empfehlen Unvorgebildete aufzunehmen. Im Allgemeinen wird die Begabung so weit ausgebildet sein sollen, dass sie unzweideutig erkennbar ist. [23v] Die Unterrichtsdauer soll, soweit nicht Extrafächer dazu kommen, wenigstens der allgemein-[uJeblichen entsprechen: Die 6 — 8 Jahre für das Hauptfach, 3 — 5 Jahre für Nebenfächer. Sie kann mit dem 10. Lebensjahr beginnen und soll mit dem 25. (im Allgemeinen) beendet sein, doch können sich daran noch freie Hochschulkurse und Meisterklassen anreihen. Jeder Schüler hat neben seinem Hauptinstrument noch wenigstens ein Nebeninstrument zu absolvieren. Jeder Schüler muss Klavierspielen können. [Typoskript”; Exposé C] [11 ARNOLD Schoenberg Derzeit: Chautauqua, New York Box 346 August 1934 VORSCHLAG ZUR ERRICHTUNG EINES ZEITGEMAESSEN MUSIKUNTERRICHTS-INSTITUTES. I. Ein solches Institut wird einen möglichst grossen Teil seiner Schüler zu einer wahrhaft überlegenen Beherrschung aller her75