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natiger Pause die Arbeit am unterbrochenen „Ring“ wiederaufleben läßt, sowie auf die aggressiv rassistischen Regenerationsschriften, die den Parsifal während dessen Entstehung begleiten und so ein Übermaß an „sexuellem Kick“ für die Arbeit an der musikalisch wohl reifsten Komposition Wagners erahnen lassen. Ulrich Drüner illustriert diese seine These mit einer Fülle an kultur- und musikhistorischem Material, das jene Wechselwirkung zwischen der kreativen Konstellation Wagners und seinen gezielten antisemitischen Ausritten zu verdeutlichen vermag — beinahe schon in einer Überfülle. Etwas zu kurz kommen dabei Erkentnisse der modernen Gehirnforschung und ihre spezifische Anwendung im „Fall Wagner“. Drüner streift zwar an einigen Stellen diesen Bereich, was aber für eine psychoanalytische Interpretation nicht ganz ausreicht. Er kann vor allem anderen die Einzigartigkeit der Wagnerschen Kreativitat aus dieser Perspektive nicht erklären und sie damit von denen seiner Zeitgenossen, allen voran Giuseppe Verdi, unterscheiden. Diese Einschränkung kann der Bedeutung dieses Buches jedoch keinen Abbruch tun, kann es doch als Basis dafür dienen, jene Aspekte noch zu erforschen, was ohne diese Studie kaum denkbar wäre. Der Wert der Arbeit ist jedoch auch aus einem anderen Grund nicht zu unterschätzen. Seit den beiden von WagnerHagiographen ausgerichteten Symposien um Wagners Antisemitismus in Bayreuth (1998) und Ellmau (1999), zu denen Ulrich Driiner freilich nicht eingeladen war, scheint ein Schlußstrich unter die Debatte um den Wagnerschen Antisemitismus gezogen zu sein. Das Verdikt des Obersten Bayreuth-Ergebenen Dieter Borchmeyer, in den einschlägigen Figuren Wagners wie Mime, Alberich, Beckmesser oder Kundry haben keine Judenkarikaturen erkannt zu werden, erfährt durch Drüners Buch zum zweiten Mal — nach Marc A. Weiners kulturgeschichtlicher Studie „Richard Wagner and the Antisemitic Imagination“ — eine vernichtende Niederlage, welche erneut vor Augen zu führen vermag, daß dem vielschichtigen Phänomen Wagner mit dem Prinzip des Fanatismus nicht beizukommen ist und der „Meister“ hierin mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden kann. Ob dies auch, nach dem Tod von Marcel Prawy, für Wien einen neuen Ansatzpunkt für den Bereich der Wagner-Rezeption bedeuten kann, bleibe, nach der nivellierenden „Parsifal“Inszenierung von Christine Mielitz, vorerst einmal dahingestellt. Markus Vorzellner Ulrich Drüner: Schöpfer und Zerstörer. Richard Wagner als Künstler. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003. 361 S. 90 Gelassene Haltung — Gedichte Michael Hamburgers Viele Stimmen haben sich zusammengetan, um eine hérbar zu machen. Zum achtzigsten Geburtstag von Michael Hamburger legt der Hanser Verlag eine Sammlung seiner Gedichte vor, die u.a. von Hans Magnus Enzensberger und Durs Grünbein übertragen wurden. Es ist eine Iyrische Fundgrube, die zum beglückenden Nachsinnen und Verweilen einlädt. Das liegt an der Vielfalt der Themen, der Kunst und der gelassenen Haltung dieses Dichters. Was John Cage „silence“ nannte, kann man hier nachbuchstabieren. Hamburger stammt aus Berlin und konnte sich als Kind vor den Nazis nach England retten. Seine Arbeiten zur englischen und deutschen Lyrik sind einschlägig, seine Übersetzungen setzten Maßstäbe. Daß er mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet wurde, hat an seinem Status als Geheimtip wenig geändert. Seine Stimme ist fein und von einer gewissen Strenge, keiner Mode, nur der erlebten Wahrheit verpflichtet. Das fordert den Leser. Im vorliegenden von Richard Dove edierten Band bezieht sich Hamburger auf die griechische Mythologie, biblische Gestalten und berühmte Dichterkollegen. Auslöser für Dichtung sind ihm aber auch der Tod eines Pferdes, die zwiefache Wirkung des Fingerhuts oder ein singendes Rotkehlchen. Daran ist nichts Betulich-Idyllisches, Hamburger tastet die Welt ab und kommt detailgenau und reflektierend zu einem Befund. Von den Bomben auf London liest man ebenso wie von einem Gewächshaus-Anbau, der sich rätselhafter Weise noch aufrecht hält, „durch Anmut, Mißachtung der Schwerkraft.“ Dieses bauliche Wunder läßt hoffen. Eine verhaltene Wehmut durchzieht ansonsten den Band, sie macht ihn selbst zu einem „Geschenk von gebrochenem Licht“. Die Jahreszeiten, Hundstage, Nebel und Novemberlicht sind präsent, „im Frost klärt sich die Sicht.“ Auch die Sicht auf das eigene Ich, das schließlich als „Ich-Gespenst“ überflüssigst wird, wie es im titelgebenden Gedicht heißt. Dieses ergreifende Alterscredo in der Fassung von Magnus Enzensberger hätte der abschließende Mollakkord sein können. Es folgen aber — der Herausgeber sei gepriesen — noch zwei weitere überaus bewegende Gedichte, „Nachwelt“ und „Ave Atque Vale“ in der strahlenden Übertragung von Friederike Mayröcker. Mit der allerletzten Zeile halten Autor und Übersetzerin Werden und Vergehen in der Schwebe: „Guten Morgen, ihr Anwesenden, Abwesenden, gute Nacht.“ Lisette Buchholz Michael Hamburger: Unterhaltung mit der Muse des Alters. Gedichte. Hg. von Richard Dove. München: Carl Hanser Verlag 2004. 190 8. „Für Kaiser und Republik“ Aus seiner in der Wiener Zeitung erschienenen Serie über die österreichischen Finanzminister hat Wolfgang Fritz ein Buch zusammengestellt, das mit den Porträts der österreichischen Finanzminister zugleich eine Geschichte der österreichischen Finanzverwaltung bietet, die in der Revolution von 1848 ihren Ursprung hatte und doch zu den konservativsten staatlichen Institutionen zählt. Die weit in die österreichisch-ungarische Periode zurückreichende Tradition, daß die Finanzminister aus dem kaiserlichen Beamtenadel stammten, Söhne von Juristen, die selbst wieder Juristen geworden waren, setzte sich weit in die Zeiten der Republik hinein fort. Auch das Prinz EugenPalais in der Himmelpfortgasse in Wiens Innerer Stadt ist nun schon eineinhalb Jahrhunderte lang Sitz des Ministeriums geblieben. Manche dieser bisher ausschließlich männlichen Minister hatten im Grunde keine Chance; sie wurden für kurze Zeit der Form halber eingesetzt, oder als Platzhalter für andere, oder waren mit einer politischen Situation konfrontiert, die nicht zu meistern war. Die aber, denen gewisse Wirkungsmöglichkeiten eingeräumt waren, beurteilt Fritz, sowohl aufgrund zeitgenössischer Anschauung als auch aus eigener historischer Kenntnis. Es zeigt sich, wer ein vorhandenes System bloß weiterverwaltet hat (was manchmal, sonstiges unbeachtet, auch richtig sein konnte) und wer Reformen einleitete, die sich als tragfähig erwiesen. Ferdinand Lacina ist einer der Minister, für die sich Fritz erwärmen kann. Dabei erwähnt Fritz nicht einmal die Auflösung des Finanzamtes für Verkehrssteuern, das sich mit der wohl trostlosesten Tätigkeit auf Erden befaßte, nämlich mit der Überprüfung von KFZ-Steuerkarten, die, vollgepickt mit Stempelmarken, Jahr für Jahr eingeschickt werden mußten — eine Reform, die mein Gefallen fand. Selbst für den Literaturforscher fallen Brosamen vom Tisch: So ließ sich mit Fritz’ Buch schnell klären, daß es den österreichisch-ungarischen Notenbankpräsidenten, mit dem verwandt zu sein das Fräulein Henriette Popovic in Leo Katz’ Sereth-Roman ,,Totenjäger“ behauptet, wirklich gegeben hat: Alexander Popovics hat er geheißen. Auch sprachlich ist man in guten Händen: Der Autor, Wolfgang Fritz, 1947 geboren, seit 1963 in der Finanzverwaltung tätig, ist zunächst als Schriftsteller hervorgetreten, mit den Romanen „Zweifelsfälle für Fortgeschrittene“ (1981) und „Eine ganz einfache Geschichte“ (1983). Seit 1981 im Präsidium des Finazministeriums tätig, ließ er nach langer Pause 2000 die wissenschaftliche Biographie des Wiener Finanzstadtrates Hugo Breitner folgen („Der Kopf des Asiaten Breitner“, der, so wünschten es die österreichischen Hahnenschwänzler, in den Staub rollen sollte) und veröffentlichte 2004 wieder einen Roman,