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Eoin Bourke Neulich wurde ich eingeladen, zu einer Sammlung beizutragen, in der kurze Prosatexte englischsprachigen Lesern präsentiert, übersetzt und erläutert werden sollten. Ich wählte Johann Peter Hebels Unverhoffies Wiedersehen, Heinrich von Kleists Neujahrswunsch eines Feuerwerkers an seinen Hauptmann, aus dem siebenjährigen Kriege, Heinrich Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral und Stella Rotenbergs Chronik aus, ohne zunächst zu merken, dass drei von diesen vier Geschichten im Bezugrahmen von Krieg spielen. Stella Rotenbergs Text trägt einen denkbar neutralen Titel, der nichts von den darin beschriebenen Übeltaten verrät. Ein Trupp Kanoniere überfällt ein Dorf, besetzt die ansehnlichsten Gehöfte, erzwingt sich Verköstigung und sieben Jungfrauen zur Befriedigung ihrer leiblichen Bedürfnisse. „Der Kaiser und der König stritten um einen Grenzstreifen“, was eine Anspielung auf den so genannten „Deutsch-deutschen Krieg“ vom Jahr 1866 zwischen Preußen und der Habsburgermonarchie sein könnte. Aber es könnte genauso allgemein auf die mitteleuropäische Geschichte hindeuten, in der ein blutiges militärisches Schachspiel um Expansion und Hegemonie mit lebendigen Königen, Damen, Springern, Bauern und Läufern durch die Jahrhunderte hindurch gespielt wurde. So erinnert uns der in diesem Text erwähnte Konflikt wie auch die anderen in Hebels und Kleists Texten an das gern Verdrängte: nämlich dass Europa aus einer Kriegskultur hervorgegangen ist, die den heraklitschen Gedanken gebar, der Krieg sei der Vater aller Dinge, und in der militärische Wertvorstellungen ganz oben standen, die dem Soldatenwesen einen viel zu hohen und Frauen gar keinen Wert einräumten. Soldaten wurden zwar als Kanonenfutter auf die Schlachtfelder geschickt, durften aber als Ausgleich unter der Landbevölkerung plündern, brandschatzen und verschleppen, wie sie wollten. Dieser martialische Geist Europas gipfelte in der grotesken Ideologie des heldischen Germanentums, das kein Schuldgefühl kenne. Wir glauben sie jedoch mit Kriegsende, im Jahre 1945, überwunden und für immer ad acta gelegt zu haben. Tatsächlich genießen wir Europäer und unsere Kinder seither, mit Ausnahme des Kriegs auf dem Balkan, die längste ununterbrochene Friedensperiode in der neueren Geschichte. Wir sagen, dass wir unsere Soldaten nur noch als Friedenstruppen in schaft in London. Foto: Uschi Lichtenegger die Welt hinausschicken, leugnen aber gleichzeitig, dass unsere Kriegskultur weiter besteht, auch wenn sie in Form von Waffenexporten einfach in Länder außerhalb Europas verlagert worden ist. Es geschehen wie eh und je Misshandlungen der Zivilbevölkerung und Schändungen der Frauen, wie sie in Stella Rotenbergs Chronik beschrieben werden, allerdings nicht mehr bei uns, sondern anderswo, während aber unsere Waffenexporte in Konfliktgebiete einen erheblichen Beitrag zum europäischen Wohlstand leisten. Out of sight, out of mind. Da komme ich aber mit meinem Steckenpferd vom zentralen Thema der Kurzgeschichte ab. Es handelt sich beim Narrativ eigentlich darum, dass die Schändung der sieben Jungfrauen durch die Soldaten einen Ehrverlust für das Dorf’bedeutet. „Ehre“ hatte damals eine höhere Wertstellung als Menschentum, wenn es um Frauen ging. Heutzutage schütteln wir unsere aufgeklärten Köpfe über Zwangsheirat und Ehrenmord in muslimischen Ländern, aber allzu lange ist es nicht her, dass ein nicht unähnlicher Ehrenkodex in Europa herrschte. Die sieben Mädchen sind die völlig willenlosen Opfer, die rituell „wie zur Konfirmation, mit Gebet und Segenssprüchen“, von den Dorfbewohnern dargebracht werden, um das Dorf vor der Zerstörung zu retten. Man — in diesem Kontext auch „Mann“ — opfert sie auf dem Altar der Ehre auf, und dann projiziert man die eigene Schuld aufsie. Wie von alters her lädt man die eigenen Sünden auf den unbescholtenen Ziegenbock und verjagt ihn in die Wüste. Alle Frauen gehen erbärmlich zugrunde bis auf die eine, die in ihrer Isolation durch Flüsterpropaganda zur „Anderen“, zur leibhaftigen Schande abgestempelt wird. Sie, das unschuldige Opfer, wird zum Hassobjekt der Gemeinde als Ersatz für die eigentlichen Unterdrücker, die Kanoniere. Weil man gegen die Waffen der letzteren nicht ankommt, wählt man da ein schutzloseres Opfer, um den verletzten Stolz zu kompensieren. Wie es in Stella Rotenbergs Gedicht Der Mensch steht: Der Mensch haßt seinen Nebenbuhler seinen Widersacher seinen Überwinder seinen Unterdrücker seinen Inquisitor seinen Kerkermeister doch am meisten haßt der Mensch sein Opfer. Ich ging an Chronik heran im verwegenen Glauben, dass das kristallklare, klassischschlichte Deutsch sich leicht ins Englische übertragen ließe. Man stößt aber als Übersetzer schon im allerersten Satz des Textes auf ein Problem, das dadurch entsteht, dass man im Deutschen durchaus das Subjekt, auch über einen längeren und vielgliedrigen Satzbau hinaus, nachstellen kann, was auf Englisch kaum nachzuvollziehen ist: Als meine Mutter ein kleines Mädchen war, wohnte an dem östlichen Ausgang des Dor‚fes, seitab von der Straße, in einer braunen, von dürftigen Föhren halb verdeckten Hütte, eine Frau. Es ist beinahe unmöglich, der Kunstfertigkeit dieses Eröffnungssatzes in der Übersetzung gerecht zu werden. Er beginnt, wie sämtliche Texte in dieser Sammlung, mit dem Temporalnebensatz „Als meine Mutter ein kleines Mädchen war“, worauf das Hauptverbum „wohnte“ folgt, dann drei adverbiale Ortsangaben, eine Partizipialphrase und endlich am Ende dieser Serie von Teilinformationen das Subjekt selbst: „eine Frau“. Bis zum Ausgang des Satzes weiß man nicht, um wen es geht. Die retardierende Kommasetzung und die verkehrte Syntax verzögern die Angabe des Subjekts so sehr, dass es dem Leser eher wie ein Objekt erscheint. Das Substantiv steht plötzlich enthüllt da, ohne beschreibende Eigenschaftswörter isoliert: „eine Frau“. Sie steht am falschen Ende des Satzes, wie sie am falschen Ende des Dorfes lebt. Dass es sich um eine Außenseiterin handelt, wird im Satz angedeutet: sie wohnt an der Stelle des 79