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Ungarische Geschichte ist kompliziert (vgl. die „kleine Chronik“, S. 72-73). Da regiert ein „Reichsverweser“ in einem Königreich ohne König; eine Restauration des Hauses Habsburg wird verhindert, aber die Fiktion seiner Herrschaft wird aufrecht erhalten, um den Anspruch auf die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete zu stützen. Sie wird aber auch aufrechterhalten, um die heikle Balance zwischen den Macht ausübenden Gruppen nicht zu gefährden. Die Magyarisierungspolitik des 19. Jahrhunderts wird überlagert von einem Wahn des „wahren Ungarn“, dessen Lebensrecht wiederhergestellt werden müsse. Der Massenmord an den ungarischen Juden, diese größte Katastrophe der an Katastrophen nicht armen ungarischen Geschichte, stellt sich schließlich als selbst- und fremdbestimmt zugleich dar. Und bis heute scheint die Kluft zwischen jenen, die sich als „wahre Ungarn“ betrachten, und denen, die sich ihrer Identität im Volkskörper nicht ganz so sicher sein dürfen oder wollen, kaum geschlossen. „Dem haßerfüllten ungarischen Kulturkampf liegt“, so Magdalena Marsovszky im Jahre 2002, „ein massiver Antisemitismus zugrunde, der jedesmal wächst, wenn eine konservative Koalition das Land regiert.‘ Martha S. Halperts kritische Schilderung des „Hauses des Terrors“ in Budapest („Pfeilkreuze und Sowjetsterne“, S. 69-71) bietet einen Einblick in diesen verdeckt und offen geführten Kulturkampf. Die Gesamtzahl der Juden in Ungarn wird für das Jahr 1941 mit 725.007 angegeben, wozu noch an die 100.000 sogenannte Konvertiten gerechnet werden müssen. Von ihnen fielen 564.500 dem nationalfaschistischen Massenmord zum Opfer, der größte Teil nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht am 19. März 1944. Aber schon vor der Besetzung Ungarns starben 63.000 von ihnen aufgrund der Verfolgungen durch das Regime des „Reichsverwesers“ Miklös Horthy — dies entspricht annähernd der Anzahl der von den Nationalsozialisten ermordeten österreichischen Juden. Daß Ungarn nach dem März 1938 zu einem wichtigen Zufluchtsland für von den Nazis Verfolgte aus Österreich wurde, hat neben einer an vielen Stellen doch durchlässigen Grenze auch mit den vielen verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Verbindungen zu tun, die über diese Grenze hinweg bestanden. Ein Teil der österreichischen Juden stammte ja aus Gebieten, die vor 1918 zur ungarischen Reichshälfte gehört hatten. Ein Exilland war das mit dem Deutschen Reich verbündete Ungarn freilich nicht; die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei, Polen und Österreich fanden sich unter strenge Polizeiaufsicht gestellt, und 18.000 von ihnen wurden schon im Juli/August 1941 aus den Internierungslagern in die Westukraine deportiert und dort von deutschen Einsatzgruppen massakriert. Rene Geoffroy (S. 27-33) und Jonny Moser (34-37) stellen die Vorgänge in ihren Beiträgen in diesem Heft ausführlich dar. Ungarn beherbergte jedoch auch Asylanten anderer Art, nämlich zahlreiche österreichische Nationalsozialisten, die vor und nach dem Juliputsch 1934 ihren Aufenthalt in Ungarn nahmen. Rene Geoffroys Beitrag „Braune Spuren“ (S. 50-60) weist unter anderem auch auf die Verwicklung ungarischer Stellen in die Vorbereitung des Juliputsches hin. Zeugnis von seinen fünf Flüchtlingsjahren in Ungarn legt Karl Pfeifer ab, während Jonny Moser den außerordentlichen Lebensweg des Wiener Arztes Ernst Fiala nachzeichnet. Mosers eigene Erinnerungen sind unlängst unter dem Titel „Wallenbergs Laufbursche“ als Buch erschienen. Nicht nur ein Raoul Wallenberg bemühte sich verzweifelt um die Rettung der in Budapest lebenden Juden. Die von Rudolf Kastner geleitete Rettungsaktion ist bis heute vielfach umstritten; Jens Brüning (S. 61-68) stellt dazu einiges klar. Die Herausgeber des Exil in Ungarn-Schwerpunktes, Christiane M. Pabst und Manfred Wieninger, haben ihrerseits wiederholt über den aus Wien-Brigittenau stammenden Feldwebel Anton Schmid gearbeitet, der Hunderte Juden aus dem Wilnaer Ghetto schmuggelte. Dieser stand dabei in enger Verbindung mit Hermann Adler, der in der Folge nach Budapest und schließlich durch die Aktion Kastners in die Schweiz entkam (S. 47-49). Wir bedauern, daB in diesem Heft auf Formen und Persönlichkeiten des ungarischen Widerstands, so z.B. auf Imre Reviczky, nicht eingegangen werden konnte. Eine Grundlage für den Exil in Ungarn-Schwerpunkt wurde durch eine „Wiener Akademie des Exils‘“ am 8. Oktober 2003 gelegt. Diese Vorlesungsreihe, von der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung im Arnold Schönberg Center (Wien) veranstaltet, wird auch in Zukunft ihren Niederschlag in ZW finden. So ist für heuer ein ZW-Heft „Exil in Jugoslawien“, herausgegeben von Gabriele Anderl und Erwin Köstler, geplant. Wir bitten unsere Leser um Entschuldigung wegen des langen Nichterscheinens von ZW. Daß wir nur langsam voran kommen, liegt bekanntlich nicht allein an unserem Unvermögen. Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Exiliyrik Soeben erschienen!