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Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort, siehe. die leizte Ortschaft der Worte, und höher, aber wie klein auch, noch ein letztes Gehöft von Gefühl. Erkennst du's? Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Milo Dor. Exil. Beides passt für mich nicht zusammen. Der Österreicher Milo Dor war in Wien nicht im Exil. Der Serbe Milutin Doroslovac ist nicht emigriert. Die beiden sind der selbe Mensch. Ich wähle das Wort, dass er ausgesetzt war, weil ich glaube, dass ich ausgesetzt bin. Für uns Menschen gilt der Reisepass. Für uns Schreibende die Sprache. Das Zuhausesein nicht so sehr in Straßen und Gassen und, Gott behüte, aber es muss sein, in Gesetzen und lokalen Verordnungen, sondern im Gewitter oder Geklingel der Worte. Milo Dor hat auf deutsch geschrieben. Milutin Doroslovac hat auf serbisch gefühlt. Das konnte nie von den jeweiligen Regierungen in den beiden Hauptstädten an der Donau — Wien und Belgrad — verändert werden. Ich habe manch braven Bürger erlebt, der nach dem einen oder anderen Jahrzehnt in einem von seinem Geburtshaus aus als Ferne angesehenen Ort seine Muttersprache nur noch näselnd gebraucht hat, als habe er sie verlernt. Ich fürchte, solche Typen waren nie in einer Sprache richtig zu Hause. Milo — oder Luta, wie wir ihn genannt haben - sprach bis zum letzten Abend, als meine Frau und ich ihn in der Pfeilgasse noch einmal besuchten, serbisch wie ein Belgrader, der nie den Ort, wo er aufgewachsen ist, verlassen hat. Und gesummt hat er an diesem Abend mit uns Avanti popolo... Das war für ihn auch Heimat, obwohl es italienisch ist. Wer das nicht versteht, dem kann ich nicht helfen. In seinen Dokumenten steht, dass er in Budapest geboren ist — auch einer Hauptstadt an der Donau, sinnigerweise so ungefähr auf dem halben Wege zwischen Belgrad und Wien —, aber zu Hause war er dort nie, von dort aus konnte er in kein Exil ziehen, das war Zufall, wie so manches in seinem, meinem, ihrem Leben. Auf dem Ausgesetztsein bestehe ich, weil ich mich so fühle, weil ich in dieser Hinsicht Milo Dor als den großen Bruder empfand. Zu Hause sein kann man, wo man erkannt und verstanden wird. Sonst, auf den Bergen des Herzens, liegt die letzte Ortschaft unserer armen Worte, und höher noch, unbeschreibbar, mit Worten unerreichbar, dieses von Rilke beim richtigen Namen genannte letzte Gehöft des Gefühls. In der Sprache sind wir zu Hause, ohne sie im Exil; anstatt von Schwertern und Kalaschnikows brauchen wir sie, die Sprache, als Waffe des Widerstandes. Polizeibeamte und Zöllner sind dieser Sprache, auch falls es ihre Muttersprache ist, was sie ja fast immer auch ist, nie mächtig. Hof- und andere wirkliche oder unwirkliche geheime, weniger geheime oder unheimliche Räte desgleichen. Oft habe ich über Milo gesprochen. Zu Geburtstagen. Auf Seminaren. Vor zwei Jahren auf der Sorbonne. Immer saß er ironisch lächelnd in der ersten Reihe. Er wusste, dass ich zu ihm spreche, nicht zum hochverehrten, löblichen Publikum, und so erwartete er, ein klein wenig neugierig, was mir Neues zu ihm, über ihn, zum Anlass von ihm, einfallen würde. Jetzt habe ich den Eindruck, da ich ihn hier im Saal nicht sehen kann, dass er von seiner Wolke aus ein wenig verwundert oder sogar tadelnd auf mich herunterschaut, als ob er sagen wollte: So ernst, Ivan? Doch, Luta, doch, antworte ich, der Tod ist ein ernstes Geschäft, nicht einmal du konntest ihn komisch finden. Wir, ohne dich geblieben, noch weniger. Wo du jetzt bist — oder, wie ich fürchte, nicht bist im Nirgendwo des Todes — bist du endlich im Exil. Und es nützt kein Widerstand. Und Preise helfen nicht darüber hinweg. Und das Gewitzel mit der Wolke, von der du hinunterschaust, auch nur ganz wenig für einen sehr kurzen Augenblick. Obwohl wir einige Jahre in der selben serbischen Kleinstadt, genauer gesagt, im Banat, ins Gymnasium gegangen sind, obwohl unsere Väter beide Ärzte waren, haben wir uns damals nicht gekannt. Der Altersunterschied war zu groß. Im selben Park, in dem ich noch Cowboy und Indianer gespielt habe, hat Milutin hinter blühenden Hecken schon Mädchen geküsst. Zum ersten Mal gehört von einem gewissen Milo Dor habe ich 1952 von dem damals relativ noch unbekannten jungen deutschen Dichter namens Heinrich Böll. Den habe ich dank Vermittlung der Rundfunkanstalt, die damals noch NWDR hieß, kennen gelernt, und der sagte mir, da habe doch ein ebenfalls Junger Landsmann von mir einen bemerkenswerten Roman geschrieben, „Tote auf Urlaub“. Böll hat mir diesen Roman geschenkt, so besitze ich ihn in der Erstausgabe. Schade, dass es mir damals nicht eingefallen ist, Böll zu bitten, dass er mir seinen Namen hineinschreibt. Milo Dor und Ruth Klüger bei der Verleihung des Bruno KreiskyPreises 2002 in Wien. Foto: Nina Jakl, Archiv der TKG