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Böll hatte Dor zuvor erst im zweiten Wahlgang mit einer Stimme Vorsprung den Preis der Gruppe 47 vor der Nase weggeschnappt. Darüber gibt es Anekdoten. Später hat Böll den Nobelpreis bekommen, und wenn man Namen in der deutschen Literaturgeschichte nennt, wird seiner vor Milos kommen, B steht ja auch im Alphabet vor D. Günter Grass, der zweite Deutsche im fernen Norden genobelte, lebt noch, erfreulicherweise. Der Buchstabe G ist auch nicht weit entfernt von B und D. I liegt noch weiter hinten, und mich verbindet mit den dreien immerhin, dass ich sie alle drei übersetzt habe. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann Milo und ich uns persönlich kennen gelernt haben, es war wohl vor mehr als einem halben Jahrhundert, aber vom ersten Augenblick an schien es uns beiden, als seien wir seit jeher befreundet. „Tote auf Urlaub“ habe ich, gemeinsam mit meinem Sohn, sogar zweimal übersetzt. Warum musste ich Milo Dor in seine Muttersprache übersetzen, wo ich doch soeben behauptet habe, er habe sie nie vergessen, sein Leben lang gleich perfekt gesprochen? Er wollte es. Wie kam es dazu? Nach dem Krieg glaubte man in Belgrad einige Zeit lang, Milo habe unter Folter im Kerker seine Genossen verraten. Die Wahrheit ist so ähnlich, wie sie in „Tote auf Urlaub“ beschrieben ist, nur noch schrecklicher. Einer der Kameraden, die dank seinem Schweigen am Leben geblieben war, kam nach der Befreiung Belgrads in die Wohnung seiner Eltern, um den Verräter zu erschießen. Diesen Wahnsinn hat Milo Dor nicht literarisch behandeln wollen. Einige Jahre später kam Milo doch ruhig nach Belgrad, söhnte sich mit dem Manne aus, aber der Ruch des Verrats war damit nicht aus der Welt geschaffen. Als ich die Aufgabe erhielt, für eine neue Enzyklopädie in Serbien die deutschsprachigen Autoren zu bearbeiten und selbstverständlich Milo Dor aufnahm, wurde mir bedeutet, ein Verräter habe hier nichts zu suchen. Ich war mir gar nicht so sicher, was wahr war, sagte jedoch, jene wenigen, die unter Folter durchgehalten hätten, hätten meinetwegen das Recht ihn anzuspucken, wir übrigen nicht. Und die Paar Zeilen über Milo Dor erschienen. Nach noch einiger Zeit wurden die Protokolle seiner Verhöre gefunden, und es stellte sich heraus, dass er tatsächlich niemand verraten, sondern eisern geschwiegen hatte. Ich war der erste, der ihm meldete, die Protokolle seien aufgetaucht und veröffentlich worden. Er kommentierte auf seine ironische Weise: „Na ja, die haben mich so dumm gefoltert, dass ich immer in Ohnmacht gefallen bin, bevor ich singen konnte...“ Dann sollte sein erstes Buch auf serbisch erscheinen, er selbst erledigte das mit dem Verlag, die Wahl fiel auf „Nichts als Erinnerung“, und er behauptete, er könne den Roman nicht selbst übersetzen oder neu schreiben, ich solle das tun. Zuerst verstand ich ihn nicht. Später, als ich anfing meine eigenen Bücher hin und her zu übersetzen, begriff ich das besser. Aber er mischte sich ein. Nicht einmal mit der Übersetzung des Titels war er einverstanden. „Nichts als Erinnerung“ klingt auf serbisch ganz richtig: „Sexzanje samo“. Er wünschte, das Buch solle „Decak u sumraku“, das wäre auf deutsch „Der Knabe in der Abenddämmerung‘“, heißen, was mir gar nicht gefiel, aber er war der Autor und so erschien es. Erst für die zweite Ausgabe konnte ich Milo überzeugen, den zuerst vorgeschlagenen Titel zu wählen. Über sein literarisches Werk möchte nicht ich sprechen. Ich bin weder Kritiker, noch Theoretiker, ich halte es mit Goethes Ausruf: „Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent!“ Obwohl es bekannt sein dürfte, möchte ich hier erinnern, was er alles für Dichterkollegen und alle anderen Bedürftigen ge tan hat. Ein ganzes, gesegnetes, langes Leben lang. Vor allem für Menschen aus seiner Heimat. Aber nicht nur. Keineswegs. Immer für alle. Warum hier nicht betonen: Auch und vor allem was er als Präsident und Vorsitzender dieses und jenes Vereins hier in Österreich an Sicherheit für seine österreichischen Kollegen erreicht, um nicht zu sagen, geschaffen hat, ist vorbildlich, vielleicht weltweit einzigartig. Er hat nicht nur übersetzt und an Verlage, Rundfunkstationen, Theater und sonstwohin Texte weitergeleitet, er hat für Wohnungen gesorgt, zum Essen eingeladen und, was manchmal wichtiger war, seine Schulter angeboten, an die man sich anlehnen und, bei Bedarf, ausweinen konnte. Eine Bibliographie seiner Übersetzungen liegt bisher nicht vor. Mag sein, ich irre mich, ich glaube jedoch kaum jemand auf dieser Welt hat mehr und aus mehr Sprachen übersetzt. Manchmal wird sein eigenes (Euvre dabei zu kurz gekommen sein. Seinen Mut hat der junge Milutin Doroslovac bewiesen, als er als gehätschelter Sohn eines bestens verdienenden Arztes ausgezogen ist für die soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, später gegen die Besatzungsmacht. Dieser Mut hat ihn nie verlassen, obwohl er in den weiteren sechs Jahrzehnten seines Lebens als Milo Dor nicht mehr in so extreme Verhältnisse gekommen ist, um ihn auf eine solche Art und Weise beweisen zu müssen. Widerstand bedarf immer des Mutes, es kommt aber auch darauf an, gegen was oder wem man mutig wiedersteht. Noch eine Eigenschaft Milos möchte ich ganz besonders erwähnen, er hat nie über irgend jemand etwas Böses gesagt, selbst dann nicht, wenn er, manchmal durchaus zurecht, beleidigt war. Ich habe leider mitunter gemeinsame Bekannte beschimpft, höhnisch über sie gesprochen, meinen vermeintlichen Witz über sie gepeitscht, er hat nie hart widersprochen, ist nie auf so etwas eingegangen, über Dritte habe ich nur liebe Worte von ihm gehört. Ich komme auf Rilke zurück, den ich am Anfang zitiert habe und am Ende wieder um Hilfe bitten möchte. Milo und ich haben uns über vieles, aber nie über Rilke unterhalten, der jetzt