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bischen Jungkommunisten von Belgrad bis Wien. Gemeinsam mit „Nichts als Erinnerung“ (1959) und „‚Die weiße Stadt‘ (1969) bildet dieser Roman die Roman-Trilogie „Die Raikow Saga“. Milo Dor war auch einer der produktivsten Herausgeber und Übersetzer nach 1945. Arbeits- und Übersetzergemeinschaften pflegte Dor dabei nicht nur mit seinem Freund Reinhard Federmann, sondern auch mit Alexander Giese, Leo Zogmayer, Alois Schmaus, Elisabeth Moltkau oder Karl Dedecius. Seit den 1960er Jahren übersetzte er Texte etwa von Ivo Andric, Isaak Babel, Bogdan Bogdanovic, Dusan Kovacevic, Miroslav Krleza, Vasko Popa, Jovan Sekelj, Branislav Nusic, Stanislav Vinevar, Ildi Ivanji oder Milovan Vitezovic. Besonders produktiv und erhellend war Dors Tätigkeit als Herausgeber (u.a.: „Die Verbannten. Eine Anthologie“, 1962; „Die Leiche im Keller. Dokumente des Widerstandes gegen Dr. Kurt Waldheim“, 1988; „Das schwarze Licht. Serbische Erzähler der Gegenwart“, übersetzt von Milo Dor und Ivan Ivaniji, 1990). Zuletzt noch veröffentlichte er eine Anthologie österreichischer AutorInnen nichtdeutscher Muttersprache („Angekommen. Texte nach Wien zugereister AutorInnen“, 2005). An die 80 Bücher sind von Milo Dor erschienen. Milo Dors Analysen der kulturellen Lagen nach 1945 sind legendär. Anfangs der 1950er Jahre protestierte er gegen die Reintegration der NS-Autoren in die österreichische Literatur. Als überzeugter Demokrat trat er schließlich ebenso gegen die Präsidentschaft Kurt Waldheims auf, wie er im Zerfallsprozeß Jugoslawiens die nationalistische Hetze kritisierte. Man kann nicht sagen, daß Dors Leistungen nicht gewürdigt worden wären: Er wurde mit wichtigen Preisen und Auszeichnungen geehrt, dem Österreichischen Staatspreis für Literatur (1962), dem Anton-Wildgans-Preis (1972), dem Literaturpreis der Stadt Wien (1977), dem Österreichischen Staatspreis für Verdienste um die Österreichische Kultur im Ausland (1989), dem Andreas-Gryphius-Preis (1998), dem BrunoKreisky-Preis (2001)... Aber sind sein Werk und damit sein aufklärerischer Geist wirklich in der Gesellschaft „angekommen“? Erlauben Sie mir, daß ich eine für mich persönlich wichtige Begebenheit aus 1985 erzähle, die ein Schlaglicht auf jenen aufklärerischen Geist Milo Dors und zugleich auf seine solidarische und selbstlose Praxis wirft. Ich war damals knapp daran, meine Habilitationsschrift zur Frage „antimoderner“ literarischer und kultureller Kontinuitäten, die in der Zweiten Republik fortwirkten, abzuschließen, als ich per Zufall und noch rechtzeitig aufeine damals vergessene, aber viel versprechende Quelle stieß: Milo Dors Rundfunksendung ,,NS-Parnaf in Österreich“, die er gemeinsam mit Reinhard Federmann im Jahre 1952 - für den Hessischen Rundfunk - gestaltet hatte. Eine „kritische Betrachtung“, so nannten die beiden ihre Untersuchung. Wie aber an das Typoskript kommen, das ich vorerst vergeblich in herkömmlichen Archiven suchte? Ein Telefonat mit Milo Dor in Rovinj klärte die Sache augenblicklich: Ja, er könne sich gut erinnern, das sei wichtig genug, daß man endlich darüber schreibe. Selbstverständlich wolle er mir helfen. Wenn er wieder in Wien sei, würde er mir den Text zuschicken. So war es denn auch. Das Typoskript sollte meinen Blick noch erheblich erweitern und mich auf neue Spuren führen. Als letztlich unverzichtbar für meine Arbeit erwies sich diese Quelle. Milo Dor und Reinhard Federmann hatten nämlich — 1952 — einen umfassenden Aufriß der Re-Integration ehemaliger NS-Größen in das kulturelle Leben der Zweiten Republik geleistet, genauer und präziser als viele wissenschaftliche Arbeiten, erarbeitet aus unmittelbarer Anschauung mit klarem Blick. Bis heute findet sich dieser wichtige Text in keinem Sammelband von Quellen zur österreichischen Kulturgeschichte nach 1945. Die Jurybegründung greift einige zentrale Aspekte von Dors Identität und Anliegen auf, von denen ich einige selbst in der Kommunikation mit Milo Dor erfahren durfte: Eine kritische, mahnende, aufklärerische Stimme war Milo Dor und ist es mit all seinen uns hinterlassenen Schriften, Romanen, Features, Filmen, Hörspielen und Essays, geblieben und wird es bleiben. Widerstand gegen Faschismus und Gewalt teilt sich uns in jeder Zeile mit. Milo Dor mußte erfahren, was Folter ist, und das Exil kennen lernen. Nie und nimmer wollte er verstehen, was Rassisten, Nationalisten und Mächtige uns unentwegt einbläuen wollen. Milo Dor wußte, wie Sprache lügen und betrügen kann, wie sich Fremdenfeindlichkeit, Antislawismus und Antisemitismus in politischen Zungenschlägen zynisch maskieren, übte Solidarität und Humanität und besaß ein tiefes Wissen um interkulturelle Beziehungen. Ihm war die ganze vielfältige Welt Heimat, ein Kosmopolit, aber einer mit Ecken und Kanten. Ihm waren Vernunft, Heiterkeit und Wahrhaftigkeit gegeben und die Kunst, von diesen Gaben auch Gebrauch zu machen. Die Menschenwürde, die er einmahnte, lebte er vor. Es gibt viele Stellen in Milo Dors Werk, die die Aussagen unserer Jury beglaubigen. In seinen Erinnerungen „Ein Fremder in Wien und anderswo“ (2000) berichtet Dor über seine Begegnung mit Paul Celan im zerbombten und zugleich befreiten Wien des Jahres 1947 — Kraft und Überlebenswille: Man kann sich schwer vorstellen, wie Paul und ich in der großen Leere, die uns umgab, über Andre Breton und sein surrealistisches Manifest, über Louis Aragon, Paul Eluard und Rene Char miteinander sprachen. Wovon wir gelebt haben, weiß ich nicht, aber wir waren da und wollten Zeugnis ablegen über die Zeit der Verachtung und der Gnadenlosigkeit. Wir hatten eine kaputte Vergangenheit hinter und eine fragwürdige Zukunft vor uns. Aber wir konnten lachen und absurde, surrealistische Spiele erfinden. Besser als in Milo Dors selbstbewußtem Vorwort zur Anthologie „Die Verbannten“, die dem Sozialisten Peter Strasser ge