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widmet war, kann man die Bewußtseins- und Gefühlslage der österreichischen Nachkriegszeit kaum beschreiben: Dieses Buch ist eine Kriegserklärung an den schlechten Geschmack eines Publikums, das noch immer an den Autoren des ruhmlos untergegangenen „tausendjährigen Reichs“ mit rührender Liebe hängt und sich in Zweifelsfällen mit schlafwandlerischer Sicherheit für den Kitsch entscheidet, an die Ignoranz der Wirtschaftswundermanager, deren einzige Lektüre das Telephonbuch ist, die Kunst mit Kunstgewerbe verwechseln und Tapeten für Bilder halten, an die Kostgänger der herrschenden Cliquen, die ihr unverdientes Geld lieber in einen Weinkeller als in eine Bibliothek anlegen, an die Literaturprofessoren unserer Provinzen, deren Horizont sich mit ihrem bevorzugten Kleidungsstück — der kurzen Lederhose — vollkommen deckt, [...] an die satte Gleichgiiltigkeit einer Gesellschaft, die selbstzufrieden ihrem Untergang entgegenddmmert. So hätte ich das Vorwort zu diesem Buch angefangen, wäre ich noch zwanzig. Da ich aber schon vierzig bin und inzwischen erfahren habe, daß man eine Kriegserklärung nicht an einen imaginären Gegner richten kann, ziehe ich meine Schimpfkanonade mit tiefer Verbeugung zurück. Eine Kriegserklärung setzt voraus, daß zwischen dem, der sie abgibt, und dem, an den sie gerichtet ist, irgendeine Art Beziehung besteht. Zwischen der österreichischen Literatur und ihrem vermeintlichen Publikum besteht überhaupt keine Beziehung. Über Hermann Broch, Robert Musil und Joseph Roth weiß man heute in Belgrad, Amsterdam oder New York mehr als in Wien. Wie soll man dann hier etwas von den österreichischen Autoren wissen, die nicht einmal tot sind? Dieses Buch könnte auch „Die Überlebenden“ heißen ... „Notizen eines Ketzers“ nennt Dor einen Essay über das Verhältnis von „Staat und Literatur“, publiziert 1966. Dors Reflexionen sind ein beeindruckender Beitrag zu dem von ihm unentwegt umkreisten Thema Geist und Macht, Macht versus Geist. Er, der Inhaftierte, der Gefolterte, wußte, wovon er sprach: In einer Diktatur hat jedes Wort, jede Geste und selbst das Schweigen ein besonderes Gewicht und eine tiefere Bedeutung, die sowohl von den Machthabern als auch von ihren Untertanen richtig verstanden wird. Ein surrealistisches Gedicht, ein abstraktes Gemälde oder ein absurdes Theaterstück spielen in manchen Ländern bis zu einem gewissen Grad noch eine revolutionäre Rolle. Heute hat man dort jedoch nicht so sehr Angst vor der reinen Form, sondern vor dem Inhalt, der, in eine nicht leicht durchschaubare Form verpackt, durchgeschmuggelt wird. Die Diktatoren werden bald einsehen, daß reine Spielerei niemandem schadet, und werden sie mit der Zeit als harmlose Freizeitgestaltung ihren Untertanen wärmstens empfehlen. [...] Die Kunst ist in unserer Zeit die letzte Ouelle der Freiheit. An dem Grad ihrer Unterdrückung, ihrer Verharmlosung oder Verspottung kann man deutlich ablesen, wie die Machthaber in verschiedenen Ländern zur Freiheit überhaupt stehen. |... ] Die professionelle Beschäftigung mit der Politik führt mit der Zeit ebenso zur Abgeschiedenheit des Elfenbeinturms wie die professionelle Beschäftigung mit der Literatur. Der Berufsliterat landet oft bei einem weltfremden Ästhetizismus und der Berufspolitiker bei einer lebensfeindlichen Ideologie, der er mit Gewalt die Wirklichkeit anzupassen versucht. Milo Dor war Künstler und reflektierte über sein Metier oft in bewegender Weise. Die folgende Passage aus dem Roman „Die weiße Stadt“ (1969) ist Teil seiner poetologischen Überlegungen und gibt zugleich Auskunft über Motivationen seines Schreibens und Arbeitens: Steig in die tiefen Schächte hinab, wühl die Erde auf, wate durch Schlamm und Blut, reiß die hartgetretenen Gräber auf und lege dich zu den Toten, zu denen du seit jeher gehörst. Daß du die Harmonie dieser schönen Welt mit deiner schiefen Nase, deinen hervorquellenden Augen und deinem asymmetrischen, zerbrochenen Gesicht noch immer verunstaltest, ist ein Mißverständnis. Du gehörst nicht in unsere friedliche Landschaft und unsere applanierten Städte. Geh, Gespenst, verschwinde ganz still und leise, wie es sich für einen wohlerzogenen Toten gehört, schleich dich bei Nacht und Nebel davon, verdufte, löse dich auf und hinterlaß keine Spur, denn wir wollen an dich nicht erinnert werden. Niemand hat dich zu Gast geladen, du bist lästig und unerwünscht, befrei uns von deiner Gegenwart. Ausgerechnet auf dich hat man gewartet, daß du die Menschheit rettest. Du kannst nicht einmal für dich selbst etwas tun, du fällst dir selbst zur Last und weißt nicht, was du mit dir anfangen sollst. Ich sehe dir schon lange zu, ohne mich in deine verworrenen Geschäfte einzumischen, seit Jahren verfolge ich deine untauglichen Versuche, in einer gleichgültigen Welt, die ohne dich besteht und dich gar nicht braucht, Fuß zu fassen. [...] Erlaube mir nun, dir endlich einmal meine Meinung zu sagen. Wovor hast du Angst? Vor der Fragwürdigkeit deines Tuns oder vor der Nichtigkeit deiner Anwesenheit? Wieso maßt du dir an, Entscheidungen zu treffen, die dir nicht zustehen, die gar nicht in deinen Bereich fallen? Entschuldige, bitte, du maßt dir nichts an, du läßt dich einfach treiben. Und das ist dein Verbrechen. Man hätte dich schon damals erschießen sollen, auf einer Straße in Belgrad, als du wie ein Besessener umhergingst, um die Menschen zur Revolte aufzufordern, man hätte dich in einem Gefängnishof oder in einem Keller erschießen sollen, oder im Steinbruch von Jajinee in der Nähe deiner Heimatstadt, man hätte dich in Smederevska Palanka exemplarisch exekutieren sollen, denn du warst nicht anpassungsfähig, wie die dummen Jaschistischen Erzieher geglaubt hatten, man hätte dich in Wien aufhängen sollen, im Galgenhof des Grauen Hauses, gleich nach deiner Ankunft, denn du warst ein Gegner, der nur darauf gewartet hatte, daß die Stadt samt all ihren Menschen unterging, man hätte dich in Flossenbürg, Dachau oder Mauthausen in einem Ofen verbrennen sollen, denn dir war es nicht bestimmt, übrig zu bleiben, die Russen hätten dich gleich nach ihrem Einmarsch über den Haufen schießen sollen, du warst nicht ihr Freund, du warst auch kein Freund der Amerikaner, du warst weder ein Freund der Sieger noch ein Freund der Besiegten, man hätte dich auf deiner ersten Reise nach Belgrad aus dem Zug holen und am ersten Baum aufknüpfen sollen, denn du warst von jeher und bist noch immer ein Fremder, ein Feind jeder etablierten Ordnung, ein Freund der Toten, unter denen du lebst, mit denen zusammen du verfaulst, warum wandelst du noch umher, ein Toter auf Urlaub, warum verpestest du die Luft, warum störst du mit deiner krächzenden Stimme die wunderbare Ruhe jener Menschen, die vergessen können, die ohne Gedächtnis und ohne Vergangenheit leben [...] Milo Dor war ein europäischer Kosmopolit. Er dachte nicht in tagesaktuellen Dimensionen, so sehr ihn natürlich die Politik des Tages bewegte, sondern in historischen Tiefendimensionen. In seinem Essay „Es gibt nur ein Europa“ (1998) heißt es: Die Schrift kam aus dem Osten und der Ursprung des Christentums ist in Palästina zu suchen. Ohne Athen gäbe es kein Rom, ohne die christlichen Humanisten des Mittelalters keine Wiederentdeckung der Antike und somit auch keine Renaissance, ohne Renaissance kein Zeitalter der Aufklärung, das ganz Europa erfaßt hat. [...] Kein Europa ohne italienische Maler und