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Bildhauer, ohne französische Essayisten, englische Nationalökonomen, deutsche Philosophen und russische Dichter. Wir gehören alle zusammen und, um mit Willy Brandt zu sprechen, „Was zusammengehört, muß zusammenwachsen“, mit oder ohne Mitwirkung der Apologeten einer krankhaften, autistischen Abschottung. Einen Teil von Milo Dors Vermächtnis mag man in den folgenden Passagen entdecken. Sie stammen aus dem Essay „Die Mechanik des Tötens“ (2002): Seit vierzig Jahren höre ich in Rovinj nachts ein Käuzchen, das nicht weit von meinem Haus in einer alten Pinie oder Zypresse sein Zuhause hat. Ich habe mich schon so an sein sporadisches „Tüt-Tüt“ gewöhnt, daß ich immer in der ersten Nacht nach meiner Ankunft darauf warte, es zu hören, damit ich ruhig einschlafen kann. Es muß sich natürlich um eine ganze Familie handeln, ein einzelnes Käuzchen hätte es wahrscheinlich nicht so lange auf ein und demselben Platz ausgehalten. Heute Nacht hörte ich gleich zwei Käuzchen ihr leicht melancholisches „Tüt-Tüt“ abwechselnd in die stille Nacht senden. Nicht nur in Serbien gilt das Käuzchen als Todesvogel, dessen Klagelaut angeblich den Tod eines Menschen ankündigt. Mich beruhigt dieser Laut hingegen und versöhnt mich mit der Welt, so unvollkommen und grausam wie sie ist, so daß ich sorglos einschlafen kann. Ich brauche das Käuzchen nicht, um mich an den Tod zu erinnern. Ich spüre seit meiner frühen Jugend seine bedrohliche Nähe. Dabei handelt es sich nicht um den natürlichen Tod, der durch Krankheit, Schwäche oder Alter erfolgt, sondern um den gewaltsamen Tod, der einem von anderen Menschen zugefügt wird. Ich habe also keine Angst vor dem Tod, der einen natürlichen Schlußpunkt unter unser Dasein setzt, sondern vor den Menschen, die im Namen irgendeines Vaterlands, einer Rasse oder Klasse, eines religiösen Wahns oder einer gewaltbereiten Weltanschauung das Leben ihrer Mitmenschen, darunter auch Frauen und Kinder, mitleidlos auslöschen und für diese verbrecherische Tat auch noch Belobigung und Orden oder gar einen gesicherten Platz im Paradies beanspruchen. Wir verbeugen uns in Respekt vor Milo Dor und seiner moralischen und künstlerischen Leistung. Am 8. September 2006 beschloß der Vorstand der Theodor Kramer Gesellschaft, Jakov Lind den Theodr Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil 2007 zu verleihen. Er folgte damit dem Vorschlag der Jury (Siglinde Bollbecher, PrimusHeinz Kucher, Eva Schobel, Daniela Strigl). Der Preis ist mit Euro 7.300,- dotiert und wird vom Land Niederösterreich, der Republik Österreich und der Stadt Wien gefördert. Jakov Lind ist als ein geradezu klassischer österreichischer Exilautor anzusehen. Er blickt voll radikaler Skepsis auf das Land, das ihn vertrieben hat, und kann den Blick dennoch nicht wenden. Wie bei kaum einem anderen Autor finden sich im Werk Linds die Erfahrungen der in der Welt umherirrenden Displaced Persons dargestellt. Letztlich bleibt ihm, als Schriftsteller und Person, die Existenz im Zwischenraum, zwischen den Sprachen und Ländern, zwischen Schreiben und Malen, zwischen dem Tragischen und dem Komischen. Jakov Lind hat sich die große Freiheit genommen, die zerreißenden Widersprüche seines Lebens und unserer Zeit ganz offen und ungeschminkt zur Sprache zu bringen. Jakov Lind, der seit Sommer 2006 schwer erkrankt war, ist am 16. Februar 2007 in London gestorben. Georg Stefan Troller wird den Preis im Rahmen des Jakov Lind-Memorials am 13. März 2007 im Jüdischen Museum Wien an Linds Tochter Oana Napier-Lind übergeben. Am 25. Mai 2007 wird der Schriftsteller Heinz Rudolf Unger in der ehemaligen Minoritenkirche in Krems-Stein über Jakov Lind sprechen. Jakov Lind, eigentlich Heinz Landwirth, wurde am 10.2. 1927 in Wien geboren. Er besuchte das Zwi Perez Chajes-Gymnasium und war Mitglied der zionistischen Jugendorganisation ,,Barak“ (Blitz). Im Dezember 1938 Jahren gelangten er und seine drei Geschwister mit einem Kinderflüchtlingstransport in die Niederlande. Nach der Besetzung der Niederlande durch Hitlerdeutschland heuerte er mit gefälschten niederländischen Papieren unter dem Namen Jan Gerrit Overbeek als Schiffsjunge auf einem Rheinschlepper an und war zuletzt sogar als Kurier einer Abteilung des Reichsluftfahrtministeriums tätig. Seine Eltern konnten 1940 nach Palästina flüchten, wohin ihnen Jakov Lind nach dem Kriegsende nachfolgte. Lind diente in der israelischen Luftwaffe und veröffentlichte eine erste Erzählung (,,Das Tagebuch des Hanan Malinek“). Neben und vor seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete er auch als Fischer, Orangenpflücker, Bauarbeiter, Büroangestellter, Photograph, Privatdetektiv, Presseagent, Zensor, Journalist, Übersetzer, Regieassistent und Filmemacher. 1950-54 besuchte er das Max Reinhardt-Seminar in Wien. Nach Aufenthalten in Amsterdam, Kopenhagen, Stockholm, Paris ließ er sich schließlich in London nieder. Lind stand der Gruppe 47 nahe, schrieb Romane, Theaterstücke, Hör- und Fernsehstücke, seit Ende der 1960er Jahre ausschließlich in englischer Sprache. Wiederholt war er Gastprofessor für Creative Writing an US-amerikanischen Universitäten. Seit Anfang der 1970er Jahre trat er als Zeichner und Aquarellist hervor. Werke u.a.: Eine Seele aus Holz (Erzählungen, Neuwied 1962); Landschaft in Beton (Roman, Neuwied 1963); Eine bessere Welt (Roman, Berlin 1966.); Ergo. A comedy. (New York 1968; 1997 am Volkstheater, Wien aufgeführt); Selbstporträt (Frankfurt/M. 1969); Numbers. A Further Autobiography (New York, London 1972); Reisen zu den Enu. Die Geschichte eines Schiffbruchs (Wien, Berlin 1983); Der Erfinder. Ein Roman in Briefen (Miinchen 1988); Im Gegenwind (Autobiographisch, Wien 1997). — Die autobiographische Trilogie Jakov Linds ist im Wiener Picus Verlag erhältlich (erschienen im Rahmen der Buchreihe „Österreichische Exilbibliothek“‘).