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I. Nicht, dass ich mich beschweren will. Aber es kommt mir immer noch absurd vor, einen Literaturpreis zu erhalten. Heute früh dachte ich einen Moment lang, es müsse ein Irrtum der Jury gewesen sein, mich in einen Zusammenhang mit Milo Dor zu stellen. Dann erinnerte ich mich, wie Konstantin Kaiser auf mich einredete, um mir etwas zu erklären, was ich eh immer wusste: dass man doch keine scharfe Grenze zwischen Literatur und Journalismus ziehen könne. Das Problem ist, dass ich mich seit Jahren nicht einmal als Journalist empfinde. Ich tu nichts lieber als schreiben und kann fast nichts außer schreiben. Ich würde so gern große Dinge recherchieren. Aber die organisatorischen Arbeiten für das Blatt namens Augustin lassen mir wenig Zeit, Journalist zu sein. IL. Ich liebe Theodor Kramer mehr als jeden anderen deutschsprachigen Lyriker, ich schätze die Tätigkeit der Theodor Kramer Gesellschaft und ich teile ihren weiten Literaturbegriff. Der Preis scheint so gesehen wie geschaffen für mich zu sein. Aber ein Preis, der wirklich im Ganzen für mich wie geschaffen ist, müsste mir in einem intimen Rahmen verliehen werden. Wenn ich vor mehr als sieben Menschen sprechen muss, verwünsche ich in der Regel ALLE Anlässe, die mich zwingen, das zu tun. Meine Eltern haben auf ihre Art versucht, mich zu beruhigen. Ich besuchte sie vor drei Tagen, sie leben im Traisental. Ab einem bestimmten Alter bekommst du Krankheiten und Preise, sagte mein Vater. Ich solle mich also in das Altersschicksal fügen. Als ich in dein Alter kam, sagte er, habe ich Gießereipreise bekommen. Außerdem bot er mir eine seiner Krawatten für die Minoritenkirche an. „Dass d’ wer bist“, sagte er. Er wusste, dass ich keine Krawatte besitze. Die Preise für Verdienste im Gießereiwesen bekam er zu einer Zeit, als sein Know how als Gießer für wertlos erklärt wurde. Als eine Gießerei nach der anderen zusperrte im Traisental und anderswo in Niederösterreich. Als mein Vater, bevor er die Pension antrat, zum Pendler wurde. Das ist, wie wenn ich einen Literaturpreis bekäme zur Zeit der Abschaffung der Literatur, überlegte ich. Weil es China gibt, braucht die Gesellschaft das Gießerei-Wissen nicht mehr. Aber ohne Literatur kippt eine Gesellschaft. Das ist der Unterschied zwischen Gießerei und Kramer, dachte ich. Il. Bei irgendeinem Dichter hab ich gelesen, dass die Gesellschaft kippen kann wie ein Gewässer. In den Presserklärungen zur Kramer-Preisverleihung ist von meiner „Flucht“ nach Wien die Rede. Ich muss damals, nach meiner Matura in St. Pölten, die geistige Atmosphäre in meinem Tal, in meiner Umgebung so empfunden haben: Als wäre das Tal gekippt. Wer bei den ewigen Judenwitzen, die unvermeidlich waren, wenn mindestens drei Männer zusammen saßen, nicht mitlachte, wurde wie ein Außerirdischer gemustert. Wenn ich damals Theodor Kramer gekannt hätte (ich habe von ihm erst Jahre später bei einem Konzert der Zupfgeigenhansel erfahren) und meine Umgebung in meiner damaligen Rotzbubenart zur Rechenschaft aufgefordert hätte — „Warum habt ihr ihn vertrieben?“ —, hätte die Antwort gelautet: Er wird schon was verbrochen haben. Auch wie man Robert Sommer bei der Preisverleihung in der Minoritenkirche in Krems/Stein. Foto: Nina Jakl, Archiv der TKG IV. Ich bin schließlich an der Seite jener gelandet, die ebenfalls in die Großstadt flüchteten, wenn auch aus anderen Gründen. Sie hielten die soziale Kontrolle in den Dörfern und Kleinstädten nicht aus. Die Flucht wurde ihnen manchmal von den Repräsentanten des „anständigen Lebens“ nahe gelegt. Ich erinnere mich an eine Augustin-Reportage aus Krems. Den Kremser Sandlern, so war darin zu lesen, wurden One-Way-Tickets nach Wien ausgehändigt. Dem Augustin fiel nicht ein, das Kremser Sozialamt dafür zu loben, dass es ihm auf diese Weise potentielle Verkäufer zuführte... Ich bin AN IHRER SEITE gelandet? Ich muss vorsichtig sein mit solchen Sprachbildern. Ich muss das Verhältnis korrekt beschreiben, auch weil mir einige Menschen vom Augustin jetzt sehr genau zuhören. Als ich vor zehn Jahren zusammen mit Riki Parzer, Max Wachter und anderen den Augustin gründete, war mein Kopf voller Illusionen darüber, dass wir mit diesem Projekt 11