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ein rebellisches Bündnis zweier Milieus zuwege bringen würden: Zwischen den durch ihre Bildung zu Kritikern der Gesellschaft Gewordenen und den von der Mainstreamgesellschaft als unbrauchbar Ausgeschlossenen. Aber wie soll das gehen, wenn erstere die Gesellschaft ablehnen und letztere - in der großen Mehrzahl — keine größere Sehnsucht kennen als in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. It doesn’t work. Ich bin AN IHRER SEITE nicht der Ohnmächtigste. Weil ich als Blattmacher, der ihre Texte auswählt, die Macht habe, über ihre finanziellen Verhältnisse mitzubestimmen (eine Seite Text bringt dem Autor, der Autorin 80 Euro), darf gegen mich das in Situationen der Ungleichheit jederzeit zulässige Mittel der Sabotage angewandt werden. Man darf versuchen, mich auszutricksen, indem man mir Texte unterjubelt, die andere geschrieben haben. Dreimal habe ich die List durchkreuzt, zum Beispiel im Falle eines mir sympathischen Alkoholikers, der ein nur mäßig modifiziertes Kapitel aus Patrick Süskinds „Das Parfum“ als eigenen Text ausgab. Diese Sabotage war für mich unverständlich, weil mir die Prosa des betreffenden Augustinverkäufers weit besser gefiel als die Süskinds. AN DER SEITE der Außenseiter zu stehen, hieße auch, offen von der Sackgasse zu reden, in die sie sich möglicherweise hineinschreiben. Jeder Applaus, den sie für Beiträge im Augustin erhalten, muss Erwartungen wecken, die der Literaturbetrieb gemeinerweise nicht erfüllt. Sie müssen glauben, der Applaus gilt ihrer Sprache; in Wahrheit drückt er vielleicht nur die Bewunderung darüber aus, dass der Gefeierte in einer hoffnungslosen Lage überhaupt schreiben kann. Stigmatisiert als kreativer „Sozialfall“ wird er, unabhängig von der Qualität seiner Sprachkunst, über den Augustin vielleicht nie hinauskommen. Eine wahrhaft paradoxe Literaturförderung: Wer dieser Sackgasse des Literaturbetriebs, dem Augustin-Literaturteil, eine Textspende gibt, erreicht Auflagenhöhen, von denen arrivierte Dichter oft nur träumen können. Ob ich damit die Literatur durch Texte aus der sozialen Peripherie bereichert habe, wie die Preisjury zu meinen Gunsten anführte, ist nicht ausgemacht. Wenn die Literatur für das System der Rezeption und Verbreitung von Texten steht, so bleiben die Peripherie-Autoren davon ausgeschlossen. V. Übrigens sind die so genannten Betroffenentexte, Entschuldigung, das ist Sozialarbeiterdeutsch, bei den durchschnittlichen Leserinnen und Lesern des Augustin die beliebtesten. Das bringt mich auf das Thema der Doppelcodierung. Umberto Eco hat die Doppelcodierung als eines der wichtigsten Charakteristika postmoderner Literatur genannt. Er schreibt: „Viele literarische Werke, schreibt er, sind wegen eines wiederentdeckten Plots mit spannender Handlung von einem breiten Publikum akzeptiert worden, das eigentlich hätte abgeschreckt sein müssen von ihren auch verwendeten avantgardistischen Stilmitteln — wie dem inneren Monolog, dem Aufbrechen der zeitlichen Abfolge oder dem raschen Wechsel der Stilregister.‘““ Der eine Code befriedigt naive Leser, der andere anspruchsvolle Leser. Die Doppelcodierung rief die so genannten Qualitätsbestseller hervor: einen Buchtyp, der gefällt, obwohl er z.B. viele sprachliche Experimente enthält. Im Augustin-Üntertitel „Erste österreichische Boulevardzeitung“ steckt das Ziel „‚Qualitätsbestseller“ drin. Nur, dass wir es mit einer Dreifachcodierung erreichen wollen (und so, um 12 Eco zu paraphrasieren, das postmodernste aller postmodernen Projekte sind). Der erste Code spricht die an, die gar nicht lesen wollen. Massenhaft wird der Augustin gekauft von Menschen, die dem Kolporteur zwei Euro geben wollen. Der zweite Code wendet sich an Menschen, die im Blatt Unterhaltung, aber auch intellektuelle Anregung suchen. Der dritte Code ist Menschen entzifferbar, die der Hafer sticht: die im Blatt nach Signalen des Aufbruchs in eine realisierbare Utopie suchen. Die Theodor Kramer-Preisjury muss der Hafer gestochen haben. Anders kann ich mir im Moment ihre Entscheidung nicht erklären. Ich bin froh über den Preis, und meine Kollegen vom Augustin auch, weil es ja auch ein bisschen ein Preis für den Augustin ist... Vielen Dank. Robert Sommer, geb.1951 in Rotheau an der Traisen (Niederösterreich), Vater Facharbeiter. 1970 Matura in St. Pölten. Danach „Flucht“ nach Wien unter dem Vorwand, Psychologie und Pädagogik zu studieren. Aktivist in Günther Nennings Initiative zum „Volksbegehren zur Abschaffung des Bundesheeres “. 1973 bis 1990 Redakteur der ,, Volksstimme “. Versuchte, neben den ,, Hauptwiderspriichen “, denen der traditionelle KPJournalismus galt, auch die sogenannten ,, Nebenwiderspritiche “ ins Spiel zu bringen: Texte gegen den motorisierten Individualverkehr, zur Lage der Psychiatrie, für selbstverwaltete Kulturzentren... 1991 Austritt aus der KPÖ. 1991-96 freier Journalist. Bücher: Falters feine Reiseführer — Die Wachau (1994), Vom Grund. Stadtteilarbeit im Augartenviertel (1997), Es war die Reblaus. Die Uhudlerlegende (1997), Die Verlorene Insel. Als Schulen zu Gefängnissen wurden (1999), Sauerbrunn — jüdische Sommerfrische (als Teil der Gemeindechronik, 1999). In dieser Zeit Gründung des „Uhudla“ (damals burgenländische Alternativzeitung) und, im Oktober 1995, der Straßenzeitung „Augustin“. Koordinierender Redakteur. Schreibwerkstatt mit , Menschen am Rand’. — Zum „Augustin“-Komplex gehören u.a. ein Sozialarbeiter-Team, ein Internet-Café fiir Obdachlose, „Radio Augustin“ (zwei wöchentliche Sendungen in Radio Orange), die Fußballmannschaft und der 2000 gegründete Chor „Stimmgewitter“. Vier Uhr früh — Wenzel singt Theodor Kramer Die CD ist im Verlag Conträr Musik im Herbst 2006 erschienen und ist auch über die Theodor Kramer Gesellschaft um Euro 14,95 erhältlich.