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des Jesuitenordens, bestand. Aber Jude ist mein Vater geblie¬
ben. Es war ihr auch egal, dass er den Gebetsriemen umband,
und als ich geboren wurde, hatten meine Eltern keine Beden¬
ken, mich „Alfred“ zu nennen, was in der teutonischen Sprache
„von Elfen beraten“ heißt.

Der alte Mann zog es vor, statt von heidnischen Geistern von
den Engeln unserer Vorfahren behütet zu werden. Er war der
letzte Repräsentant wahrhaften Judentums unter den Mitgliedern
unserer Familie, von denen manche, dem neuen Geist folgend,
Christen wurden. In politischer Hinsicht wurden die Teile der
Familie, die in Galizien geblieben waren, glühende polnische
Patrioten, wie der größte Teil der polnisch-jüdischen Intelligenz;
manche Wiener hingegen wurden sogar deutschnational, wäh¬
rend ein Bruder meiner Mutter, Bewunderer des unglückseli¬
gen jüdischen Abtrünnigen Otto Weininger, sich wie sein Meister
umbrachte, über dem Buch „Geschlecht und Charakter“.

Kein Wunder also, dass der alte Nathan die Wiener Atmo¬
sphäre luxurierter Fröhlichkeit, des Selbsthasses und der inne¬
ren Verzweiflung nicht mochte, dass er gerne in die verschla¬
fenen mährischen Städte zurückkehrte, in die einsamen Dörfer
der weiten ungarischen Puszta, zu den romantischen Dörfern
in den Karpaten. Diese einfachen, anständigen Leute, Juden wie
Christen, liebten — nein, sie verehrten Großvater. Er brachte ih¬
nen nicht nur die Möglichkeit, geistige Getränke, die in der
prächtigen Stadt Wien gebraut wurden, zu kaufen — einer mehr
als eintausend Kilometer entfernten Stadt —, er trug ihnen, die
weder Zeitung lesen, noch reisen konnten, noch Briefe erhiel¬
ten außer vom Steueramt, auch den Geist der modernen Welt
zu. Er war der Mittelpunkt in manch vergessenem Dorfwirts¬
haus. Ich stelle mir vor, wie alte und junge Männer seinen
Geschichten lauschten — die Frauen durften sie nicht direkt aus
seinem Mund hören. Die jungen Männer stellten ihm eifrig
Fragen: über das Leben im Westen, welche Möglichkeiten sie
in Wien hätten, wie viel man in einer Fabrik verdiene, was die
Wahrheit sei über Tanzlokale und „lebende Bilder“, über Wiener
Mädchen und wo sie sich trafen — tausend Fragen, hervorge¬
rufen durch ein Wort, das man auf einem Jahrmarkt, von einem
Postboten oder einem Lokomotivführer aufgeschnappt hatte.

Mein Großvater riet ihnen, nicht von zuhause fortzugehen,
nicht ihren Seelenfrieden für die mörderischen Freuden einer
gottlosen Zivilisation zu tauschen. Er ermahnte sie, das Vertrauen
auf Gott nicht zu verlieren, ob es nun ein jüdischer, ruthenischer
oder mohammedanischer Gott war; sie sollten ihre Andachten
verrichten und bedenken, wie man zur Freude Gottes wird, an¬
statt die Freuden dieser Welt zu suchen.

So sprach er zu ihnen, und er hielt diese Predigten für das
wichtigste Werk seiner langen und mühsamen Reisen. Vielleicht
dachte er auch, dass seine Art, die Wahrheit zu predigen, ihn
vor Gott von den Sünden reinigen würde, die er durch das Ver¬
giften von Bauern und Holzfällern, Landarbeitern und Heim¬
arbeitern mit den Produkten einer gottlosen Zivilisation beging.

Meine arme Großmutter starb vor vielen Jahren, krank und
blind und eifersüchtig auf Großvater wie in jungen Jahren. Gro߬
vater lebt noch immer, im Ghetto von Nazi-Wien, neunzig Jahre
alt und behütet von seiner zweiten Frau, fast dreißig Jahre jün¬
ger als er und doppelt so herrisch wie meine arme Großmutter.
Glücklicherweise versteht er nicht wirklich, was um ihn her¬
um vorgeht, so meint er, dass Adolf Hitler eine Art Nachfolger
des früheren Bürgermeisters Dr. Karl Lueger sei, des „sanften
Judenhetzers“.

Er wunderte sich nur, warum er an Yom Kippur 5699 nicht
zur Feier in seine Gemeinde gehen durfte, und wieso wir eine

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Ausrede nach der anderen erfanden, um ihn daran zu hindern,
in sein altes, geliebtes Gotteshaus zu gehen. Er sollte nicht er¬
fahren, dass die neuen Heiden alle Synagogen zerstört und ge¬
brandschatzt hatten, fünfhundert an der Zahl in Deutschland,
in diesem verhängnisvollen November 1938.

Und er fragte sich, warum sein Enkelsohn eines Tages, nach¬
dem er einige Monate in Dachau verbracht hatte, plötzlich von
ihm Abschied nahm, Abschied für immer, um eine Reise übers
Meer anzutreten, die um vieles weiter war als nach Trans¬
sylvanien oder Dalmatien. Er segnete mich, der geliebte alte
Mann, denn er wusste, dass er mich nicht mehr sehen würde.
Aber in seiner Stimme lag dasselbe Erstaunen, mit der er zu ei¬
nem walachischen Jüngling gesprochen hätte, der im wunder¬
bringenden Westen reich werden wollte. „Musst du wirklich nach
Amerika gehen, musst du? Hier kannst du nicht reich werden,
das ist wahr. Aber wenn du die ewige Wahrheit finden willst —
brauchst du keine einzige Meile fortzugehen. Gott ist hier. Gott
ist überall.“

Aus dem Englischen von Maria Guttenbrunner.

Erschienen im Februar 1941 unter dem Titel „Agent of the
Lord“ in der Zeitschrift „The Jewish Outlook“ (New York), S.
9-11. — Alfred Werner (1911 Wien — 1979 New York) studier¬
te Jus in Wien, war 1933/34 Mitglied der ,, Vereinigung sozia¬
listischer Schrifisteller“, 1936/38 literarischer Leiter der
Jüdischen Kunststelle und Mitarbeiter an Irene Harands Zeit¬
schrift ,, Gerechtigkeit (Wien). 1938 wurde er nach Dachau
deportiert. 1939 Flucht nach Großbritannien; 1940 in die USA.
1941/45 Mitarbeit an der Universal Jewish Encyclopedia. 1943/
60 Mitherausgeber der Zeitschrift „Chicago Jewish Forum“.
1949/52 studierte er Kunstgeschichte. Veröffentlichte Gedichte,
Prosa, Aufsätze und rund 30 Künstlermonographien.

Verstreutes

Wien-Leopoldstadt, auf kleinstem Raum. — Finde die folgende
undatierte Notiz: In der Städtischen Bücherei Zirkusgasse wur¬
de nebst anderen lange nicht ausgeliehenen Büchern kürzlich
Ernst Papaneks „Die Kinder von Montmorency“ ausgemustert.
Das Buch handelt von den Heimen für Flüchtlingskinder, die
Papanek in Frankreich 1938-40 organisierte und betreute. Fast
zur gleichen Zeit fand, kaum einen Steinwurf entfernt, in den
Räumen des Psychosozialen Zentrums ESRA in der Tempel¬
gasse eine Veranstaltung mit Gustav und Hanna Papanek statt,
die eben jene „Kinder von Montmorency“ zum Inhalt hatte.
Moderator des Gesprächs war Peter Huemer, der auch in der
Zirkusgasse immer wieder Gespräche mit bekannten Zeitge¬
nossen leitet. Über 120 Leute folgten den Ausführungen von
Hanna und Gustav Papanek, die sich an Ernst Papanek und
Montmorency erinnerten. Es ist ein Zufall, daß ich von dem selt¬
samen Zusammentreffen der Ereignisse erfuhr. Bibliotheken sind
wohl auch ein Ort des Gedächtnisses. Die Erinnerung, stelle ich
mir vor, irrt jetzt zwischen Tempel- und Zirkusgasse herum.
Welche Adresse, fragt sie sich, hatte denn das Gedächtnis?