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Der Beschluß der französischen Nationalversammlung, die Leugnung des Genozids an den Armeniern in Hinkunft ebenso zu bestrafen wie die „Auschwitz-Lüge“, wirft erstens die Frage nach der historischen Wahrheit auf (in der Türkei ist die Erinnerung an den Genozid als „Herabsetzung des Türkentums“ strafbar), zweitens wird damit die Frage nach der Einzigartigkeit oder Singularität der Shoah neuerlich gestellt. Zusammenhänge zwischen der Verfolgung der Armenier und der nationalsozialistischen Verfolgung der Juden wurden ja schon von Exilschriftstellern wie Franz Werfel und Armin T. Wegener hergestellt (der im Ersten Weltkrieg persönlich Zeuge des Massenmordes an den Armeniern wurde und als einer der ersten mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln dagegen protestierte). Bei diesen Zusammenhängen handelt es sich indes nicht bloß um Analogien, wie etwa bei einem Vergleich der Shoah mit dem Massaker an den Tutsis in Ruanda, sondern um historische Handlungszusammenhänge, die sich weder mit Analogien (die immer auf Verallgemeinerungen beruht), noch monokausal fassen lassen. Da wir es ablehnen, einfach von einem türkischen Massenmord an den Armeniern zu sprechen (wir sprechen auch ungern von einem deutschen Massenmord an den Juden), stellt sich zunächst die Frage nach der Vorgeschichte bzw. danach, welche Kräfte im osmanischen Vielvölkerstaat den Massenmord an den Armeniern herbeiführten. 1877/78 erlitt das osmanische Reich im Krieg mit dem zaristischen Rußland eine katastrophale Niederlage. In der Folge mußte es den Armeniern beim Berliner Kongreß 1878 Rechte zugestehen, die aber in der Folge kaum gewährt wurden. Bereits 1893/94 wurde ein Aufstand armenischer Dörfer brutal niedergeschlagen. 1895 folgten Pogrome in den Städten mit etwa 100.000 armenischen Toten. (Interessant ist die Parallelität: Immer wenn international Zugeständnisse in der Minderheitenpolitik gemacht werden mußten, wurde zugleich der Druck auf diese Minderheiten erhöht.) Die eigentlichen Akteure des Genozid formierten sich aber erst 1889 mit der Konstituierung des Bundes „Einheit und Fortschritt‘ (Comite Union et Progres, CUP, „Unionisten“ genannt) in Istanbul, der die Führung der jungtürkischen Bewegung bald an sich riß. Diese sozialdarwinistisch inspirierte, nationale Homogenisierung, Reformen und Modernisierungen anstrebende Organisation übernahm 1908 teilweise die Macht, um ab 1913 ein diktatorisches Einparteienregime zu verwirklichen. Wesentlichen Einfluß übten die Anhänger eines türkischen Ethno-Nationalismus aus, der von einer Großtürkei (unter Einschluß aller Turk-Völker) bis hin nach China träumte. 1909 forderte ein antiarmenisches Pogrom in der Region Adana neuerlich 20.000 Todesopfer. Der italienische Einfall in Libyen 1911, die Niederlage im ersten Balkankrieg 1912 führten zu einer Radikalisierung des muslimischen Nationalismus. 1913 wurde die paramilitärische Jugendorganisation „Bund Türkische Kraft“ gegründet, und im Zuge von Kriegsvorbereitungen wurden „bevölkerungstechnische“ Maßnahmen ins Auge gefaßt, so die „Liquidation nichttürkischer Siedlungsschwerpunkte an strategisch bedeutender Lage“. 1914 wurde eine spezielle Organisation zum Kampf gegen die Minderheiten aufgebaut. 16 Eine Periode der Vertreibungen und Umsiedlungen begann, verbunden mit einer Kampagne gegen die christlichen „Blutsauger“, Armenier und Griechen. Im Frühjahr 1914 wurden etwa 130.000 Griechen aus Izmir vertrieben, im August 1914 begannen die Überfälle von Spezialeinheiten auf armenische Dörfer, vom Verteidigungsministerium koordiniert. Im Februar 1915 wurden die armenischen Rekruten der türkischen Armee zuerst entwaffnet und dann systematisch ermordet. Vermutlich Ende März 1915 dürfte die CUP-Regierung die Entscheidung, die Armenier zu vernichten, gefällt haben. Die Gesamtverantwortung lag nun beim Innenminister Talat Pascha. Einen Anlaß bot der Verzweiflungsaugfstand der Armenier in der Stadt Van im April. Ende April wurde die Ermordung der armenischen Eliten in Gang gesetzt, im Mai begannen die Massendeportationen und -morde. Die Deportationen waren im Herbst 1915 im wesentlichen abgeschlossen, nur vereinzelte fanden noch 1916 statt. Während die armenischen Männer zumeist sofort füsiliert wurden, wurden Frauen und Kinder zum Verhungern und Verdursten in die syrische Wüste verschleppt. Die Schätzungen über die Gesamtzahl der Todesopfer schwanken zwischen 800.000 und 1,500.000. Etwa 870.000 der Deportierten überlebten - u.a. dank dem Militärstatthalter Syriens, Cemal Pascha, der im Gegensatz zu den Zentralstellen nicht die rasche Vernichtung der Armenier, sondern die Nutzung der armenischen Arbeitskräfte wünschte. Eingebettet war die „Aktion“ gegen die Armenier in Umsiedlungsmaßnahmen gegen andere ethnische Gruppen, die Griechen vor allem und die Kurden. Im Unterschied zur Shoah beschränkte sich der Massenmord an den Armeniern auf das Territorium eines Staates, während die Shoah mit Ausnahme weniger Länder ganz Europa erfaßte und von mehreren Staaten betrieben oder zumindest unterstützt wurde. Die Armenier lebten einerseits in ihren traditionellen geschlossenen Siedlungsgebieten im Nordosten der Türkei, andererseits verteilt in den städtischen Zentren, mit starken Positionen im Handel, Geldwesen und Gewerbe; zumindest in West- und Mitteleuropa unterschied sich die Struktur jüdischer Ansiedlung erheblich davon. Während die nationalsozialistische Verfolgung als eine rassistische intendiert war (die „Rasse“ individuell jedoch an Merkmalen der Religionszugehörigkeit festmachte), wurden die Armenier als Angehörige einer anderssprachigen Nation und einer anderen Religion verfolgt; eine Politik der gewaltsamen Assimilierung mit Übertritt zum Islam war für die CUP-Regierung und für die nationalrevolutionäre Türkei Kemal Attatürks gegenüber den armenischen Bevökerungsresten vom ideologischen Konzept her möglich und wurde auch praktiziert — nicht für die Nationalsozialisten. Mit der Shoah gemeinsam ist dem Genozid an den Armeniern die Einbettung des Massenmordes in Umsiedlungen und noch größere Umsiedlungspläne. Diese führen stets nicht nur zu einem massenhaften Sterben älterer und schwächerer Personen aufgrund von Krankheit und Entkräftung, sondern gehen oft genug mit Massenmord-Aktionen einher, sei es, um die Vertreibung in Gang zu setzen (wie beim Massaker von Srebenica), sei es, um die Überfüllung der Lager und die Überlastung der Transporteinrichtungen in Grenzen zu halten. Geradezu ‚typisch’ für einen Genozid ist der Versuch, die Spuren der früheren Anwesenheit des ausgerotteten Volkes zu