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beseitigen: Synagogen werden niedergebrannt und geschleift (oder in Garagen und Feuerwehrhäuser umgewandelt, wie in Österreich nach 1945 in Fortsetzung des Genozids geschehen), Friedhöfe verwüstet und verbaut, armenische Kirchen systematisch zerstört. Wesentliche Unterschiede zeigen sich im Davor und Danach: Während die Juden in Österreich ab 1867, in Deutschland ab 1873 den anderen Bürgern zumindest formal gleichgestellt waren, waren die Armenier (wie auch die Juden und Angehörige anderer nichtmuslimischer Religionen) im Osmanischen Reich politisch rechtlos und einem Sonderreglement unterworfen. Nicht auf dem von der Französischen Revolution vorgezeigten Weg der Gleichberechtigung und Emanzipation konstituierte sich der türkische Nationalstaat, sondern als Türkisierung, ‚Herr werden im eigenen Haus’. Freilich sind die Tendenzen, im Deutschen Reich nach der nationalen Einigung 1871 endlich ein irrationalistisch beschworenes Deutschtum mit „wahrer deutscher Kultur“ zu begründen, nicht zu übersehen. (Man sehe sich z.B. die frühen Schriften Friedrich Nietzsches dazu an.) Ein anderer großer Unterschied liegt im Danach. Während der Nationalsozialismus international geächtet und seine Führer bestraft wurden, konnte sich ein Talat Pascha der Bestrafung entziehen. Sein Zufluchtsort war Berlin. 1923 wurden mit dem Vertrag von Lausanne die „bevölkerungstechnischen“ Maßnahmen der Türkei sanktioniert. Der Völkermord an den Armeniern wurde dadurch ein Beispiel, wie man ‚Ordnung im eigenen Haus’ macht, eine Ermutigung für all jene „Geopolitiker‘, die damals schon wieder groß angelegte Umsiedlungspläne hegten. (Das gilt auch für die Sowjetunion, die schon zuvor ihren Frieden mit der neuen Türkei Kemal Attatürks machte.) Franz von Papen, deutscher Botschafter in Ankara und 1935-38 auch in Wien, äußerte zur Zehnjahresfeier der türkischen Republik 1933, die Türkei sei dem deutschen Volk ein Vorbild hinsichtlich der „Trennung von allem was nicht türkisch war“. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Unterschied: „Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erforschung der Shoah fehlte bei der Beschäftigung mit dem Völkermord an den Armeniern die ... institutionell-universitäre Förderung.“ So Hans-Lukas Kieser und Dominik J. Schaller in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen großen Buch „Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah“. Belastende Dokumente in türkischen Archiven seien mittlerweile vernichtet worden, und die Biindnispolitik der USA habe in der US-amerikanischen Turkologie zu einer beschönigenden Sicht auf die moderne Türkei geführt, „dies in Synergie mit politischen Bestrebungen, die Shoah als einzigartig darzustellen“. In der Türkei selbst steht, wie bereits erwähnt, heute nicht die Leugnung des Genozids an den Armeniern, sondern dessen Erwähnung unter Strafandrohung. Die Einzigartigkeit eines historischen Geschehens (ich würde lieber von Singularität reden) kann nicht mit dem Ausmaß der Katastrophe, der außerordentlichen Grausamkeit, der großen Zahl an Opfern begründet werden. Auf Anhieb findet man Beispiele für historische, also durch menschliche Handlungen herbeigeführte Katastrophen, die wie die Shoah Millionen Opfer forderten. Herausgehoben aus den politischen, kulturellen, ideologischen Zusammenhängen wird jede historische Katastrophe mit jeder beliebigen anderen vergleichbar. Eine solche Beschwörung (besser, kantisch gesprochen: Hypostasierung) der „Einzigartigkeit“ führt gerade zum Gegenteil dessen, was sie möglicherweise intendiert hat. Sie ermöglicht dadurch Stellungnahmen wie die von Maria Schmidt, Direktorin des Budapester „Hauses des Terrors“ und Geistesverwandte unseres österreichischen „Vergessens“-Philosophen Rudolf Burger. Sie sieht die Sache ‚realpolitisch’: Im Zweiten Weltkrieg ging es nicht um das Judentum, um den Völkermord. So leid es uns auch tut: Der Holocaust, die Ausrottung oder Rettung des Judentums war ein nebensächlicher, sozusagen marginaler Gesichtspunkt, der keinem der Gegner das Kriegsziel war. ... Es muß auch festgehalten werden, daß die Alliierten Nazi-Deutschland auf keinen Fall deshalb den Krieg erklärt hatten, um die geplante völkermörderische Politik gegen die Juden zu verhindern. Daher ist für sie nichts Außergewöhnliches, mit anderen Worten Unikates, passiert. In unserem Jahrhundert ... ist ja eine ganze Reihe von Massenmorden und Genoziden passiert. ... Die kommunistischen Regime haben im Interesse der Festigung ihrer Herrschaft die Massenmorde zur wirklichen Regierungsmethode erhoben. (Magyar Hirlap, 13.11. 1999, zit. nach Magdalena Marsovszky, „Das ‚Haus des Terrors’ in Budapest“). Die Singularität der Shoah läßt sich nur im Zusammenhang der geschichtlichen Ereignisse erweisen, im Gleichzeitigen und im Davor und Danach. Nicht ausgeblendet werden darf der „übergeordnete Zusammenhang nationalsozialistischer Vernichtungsabsichten und -praxis‘ (so Hans-Lukas Kieser und Dominik J. Schaller), also die teilweise bereits verwirklichten Pläne zur Ausrottung der Roma und Sinti, zur Dezimierung und Versklavung der slawischen Völker, zur Eliminierung aller politisch Andersdenkender. Zugleich steht die Shoah in einem nicht auflösbaren Zusammenhang mit den zur Niederwerfung des Nationalsozialismus und seiner Verbündeten von den alliierten Nationen und bedrängten Völkern geführten Kämpfen. Beide zusammen, die Shoah und der Krieg gegen die die Menschheit verachtenden Mächte Hitlerdeutschland und Japan, stellen eine welthistorische Erfahrung von universeller Bedeutung dar. Die Frage des Lebensrechts der Juden wurde zu einer Frage des Lebensrechts der Menschen. So entstand erst auch die völkerrechtliche Ächtung des Genozids. Jeder Genozid stellt uns vor das Problem, daß er den historischen Zusammenhang zu sprengen versucht und zugleich in ihm steht. Jeder Genozid ist eine Katastrophe, aber eine durch menschliches Handeln herbeigeführte Katastrophe, keine Naturkatastrophe. Es ist bloß der immerzu Real- und Geopolitik für sich bemühende grassierende Sozialdarwinismus (oder Soziobiologismus) des 20. Jahrhunderts, der die Geschichte auf eine von der Willkür, statt von Gesetzen beherrschte Naturgeschichte und den Humanismus auf ein „So leid es uns auch tut“ (siehe oben, Maria Schmidt) herunterbringt. Kehren wir zu den eingangs gestellten Fragen zurück: Die historische Wahrheit des Genozids an den Armeniern ist als erwiesen anzusehen, auch wenn dieser Genozid nicht im geplanten Ausmaß realisiert wurde; die Türkei muß dem Rechnung tragen, so oder so, früher oder später. Und die Singularität und Universalität der Shoah besteht, nicht kraft überhistorischer Einzigartigkeit, sondern im konkreten geschichtlichen Zusammenhang. Hans-Lukas Kieser, Dominik J. Schaller (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian Genocide and the Shoah. Zürich: Chronos 2003 (2002). 656 S. 17