OCR
Wie lange ist es denn erst her, dass Wien die zweitgrößte jüdische Gemeinde Europas war? Zwanzig Jahre! Warschau — die größte. Heute ist Moskau - ein Paradox inmitten von Paradoxen — die größte jüdische Gemeinde in Europa — 500.000, London — die zweite — 300.000, Paris die dritte - 200.000. Warschau und Wien hingegen sind auf ungefähr 10.000 reduziert. Dabei hatte Wien zur Zeit der größten Blüte der jüdischen Gemeinde dort 200.000 Juden. Und damit schon genug der vergleichenden Statistik. Der generelle Eindruck meiner beiden Besuche in Wien, Mitte und Ende September 1956, war, dass die dortige jüdische Gemeinde eine Tendenz zu wachsen hat. Woher wachsen? So. Von allen Enden der Welt. So war es ständig und so ist es auch jetzt. Welchen Juden in Wien ich auch immer die simple fünfwortige Frage stellte: „Wo kommen Sie denn her?“ — er hatte stets eine so komplizierte Antwort darauf, dass ich die Fragerei aufgegeben habe. Es hat sich herausgestellt, dass jeder heutige Wiener Jude von überall her kommt — und so sicherlich alle zusammen. Es gibt aber auch heute in Wien eine größere Anzahl Juden, welche tatsächlich Dortige sind und aus Heimweh zurückgekehrt sind. Und — nebenbei gesagt — haben sie gefühlt, dass Wien mit einem Male eine Stadt mit einer Zukunft geworden ist... Und was Schönheit anbelangt und leichte Lebensart, so ist Wien Paris sehr ähnlich. Diesbezüglich kann ich als Zeuge dienen, denn ich habe zehn Jahre lang in Wien gelebt. Tatsächlich nur ein paar Schritte entfernt vom 700 Jahre alten Stephansdom ist ein Labyrinth von hügeligen Gassen; da ist die Judengasse und die Seitenstettengasse und noch ein bisschen weiter ist der Judenplatz. Diese Gassen haben eine hunderte Jahre alte jüdische Tradition. Die Namen der Gassen sind in der Hitlerzeit— und Hitler, das sollen wir niemals vergessen, war ein Wiener Produkt — geändert worden. Jetzt hat man ihre Namen wiederhergestellt. Die jüdischen Geschäftsinhaber kehrten aber nicht mehr in diese Gassen zurück. Dort hatte es immer, Tür an Tür, lauter „Tandlashes“ gegeben, was Händler mit alten Kleidern bedeutet. Der Sabbath pflegte hier Sabbath zu sein und ebenso natürlich auch jeder Feiertag ein Feiertag. Aber als ich in diesem Jahr zu Jom Kippur dort war — standen alle Geschafte offen. Und auf ihren Schildern sind allerlei Namen, tschechische und ungarische und deutsche, jedoch keine jüdischen. Im Gegenteil, auf den eleganten Wiener Geschäftsstraßen sieht man wohl schon wieder da und dort einen Lewi, einen Kohen, einen Goldberg. Die hunderte Jahre alte (und dutzende Häuser und sogar Paläste besitzende) jüdische Kultusgemeinde von Wien hat all ihre Besitztümer zurückbekommen. Sie hat alle Tempel zurückbekommen, die stehen geblieben sind — vor allem den anderthalb Jahrhunderte alten Seitenstettengassentempel. Dort hat einst der weltberühmte Salomon Sulzer gesungen und der nicht weniger weltberühmte Zwi Perez Chajes gepredigt. Der Tempel ist nicht allzu groß. Gebaut ist er in der Form eines riesigen Eis — oder gaı eines aluuwdischen Schiffes. Su pflegle man einstmals Synagogen zu bauen: Außen grau und unansehnlich — und die ganze Pracht im Inneren. Und genauso ist dieser Wiener Tempel. Eine blaue Helligkeit erfüllt ihn, auch heute noch. 24 Die Gemeinde selbst ist nicht wieder in ihre alten Kanzleien in der Seitenstettengasse eingezogen. Sie befindet sich heute in einem Palast am Schottenring 25. Aber man hat mir gesagt, sie werde von dort wieder in ein kleineres Haus umziehen. In diesem Palast bläst der Wind: Entweder fragt jemand nach dem Grab eines Verwandten, oder es kommt ein junger jüdischer Mann mit seiner nichtjüdischen Braut, die es sehr eilig hat zum Judentum überzutreten. Nicht weniger als drei solcher Pärchen haben dort im Korridor gewartet, während ich selbst dort darauf wartete, wegen eines mir teuren Grabes nachzufragen, des Grabes eines Bruders. Und hier soll gleich Erwähnung finden, dass der große jüdische Zentralfriedhof samt allen seinen marmornen Grabsteinen und seinen Familienkatakomben intakt geblieben ist. Am Jom Kippur war der Tempel voll bis an den Rand — sowohl mit Frauen, als auch mit Männern und auch mit Kindern. Der Kantor sang und die Wände sehnten sich nach den SulzerZeiten; der jetzige Rabbiner - er ist sogar noch dazu Doktor — predigte von einem Blatt Papier mit ungarisch-deutschem Akzent, und die Wände gedachten noch der Zwi Perez ChajesZeiten... Die Beter hatten keine Sehnsucht und keine Fragen, zum größten Teil hatten sie von all diesen Sachen keine Ahnung. Und die jüdischen Aristokraten, die hier einst zu beten pflegten — waren entweder in Amerika oder in der Schweiz, oder sie beteten in ihrem improvisierten Gebetskreis im dritten Bezirk.’ Deshalb haben sich chassidische Juden einen Gebetskreis in einem der Gemeindegebäude am Judenplatz improvisiert — und es gab wahrlich was zu hören. Dort brannten Jom KippurKerzen in Töpfen und die Stimmen drangen bis zum siebten Himmel empor. Was diese Juden in Wien machen, kann ich euch nicht sagen. Viele von ihnen tragen Bart und Schläfenlocken. Ich traute mich nicht, sie zu fragen und sie mitten im enthusiastischen Jom Kippur-Gebet zu stören. Während meines Besuches in Wien ahnte dort noch niemand, was ein paar Monate später in Ungarn geschehen würde, und dass die Stille der Wiener Kultusgemeinde, die wahrlich friedhofhafte Stille, in Kürze „gestört“ werden würde durch so viel „Aufleben“, welches die ungarischen Flüchtlinge hereinbringen würden. Ich stelle mir vor, dass ein beträchtlicher Teil von ihnen in Wien bleiben und die Kultusgemeinde ihren Palast am Schottenring nicht mehr verlassen wird. Ihre Klubs, welche dort unter der Leitung des Kulturverwalters Abraham Singer kaum frequentiert wurden, werden von neuen Besuchern belebt werden, die nach Jahren hinter dem Eisernem Vorhang nach einem „Jüdischen Wort“ dürsten. Übrigens — Abraham Singer: Er ist dort auch der Bibliothekar eines Schatzes von etwa dreißigtausend religiösen und weltlichen Büchern und verwaltet auch ein ansehnliches jüdisches Museum, welches derweilen noch zum Großteil in Kisten verpackt ist. Abraham Singer war im Jahre 1908 — hört und staunt, staunt aufrichtig — der Sekretär der Czernowitzer Sprachkonferenz und sein Jugendbildnis könnt ihr auf dem offiziellen Bild dieser historischen Zusammenkunft finden — neben Perez, Shitlowsski und Nathan Birnbaum. So gehen wir mit Abraham Singer von Regal zu Regal und bewundern die Kostbarkeiten — und speziell die hunderte Jahre