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alten seltenen religiösen Bücher mit jüdisch-deutschen Übersetzungen; und Singer erzählt und wiederholt noch einmal und noch einmal: So stehen jüdische Bibliotheken von den Toten auf... Und ich meine, das sage er wohl nur so symbolisch. Wie er es aber ständig wiederholt — frage ich, was er damit meint. Und er erzählt mir, dass man, als Hitler in Wien einmarschiert war, in der Kultusgemeinde jeden Tag in der Früh vor den Türen dort heimlich liegen gelassene Säcke voller weltlicher und religiöser Bücher zu finden pflegte. Und da man für sie keine Verwendung hatte — pflegte man sie auf den Friedhof hinauszuführen, Katakomben zu öffnen und sie dort zu verstecken, bis der Furor ein Ende haben würde... Und als das Wüten vorüber war, hat man all diese Bücher wieder ausgegraben und hier sind sie — aber es ist gut möglich, dass noch eine Menge an Büchern begraben geblieben ist — die werden halt dann erst auferstehen, wenn der Messias kommt... Gibt es denn jetzt noch Antisemitismus in Wien? An der Oberfläche konnte ich ihn nirgendwo sehen oder hören und ihn auch nicht in den Zeitungen bemerken. Es stimmt, dass am Jom Kippur vor den Synagogen Polizisten standen und die Eingänge bewachten. Aber so war es auch in den besten Zeiten üblich. Die Bewachung hatte eher den Sinn, darauf’ zu achten, dass keine Juden ohne Eintrittskarten hereinstürmten und in den Tempeln selbst „die Ruhe störten“. Aber Vorsicht ist Vorsicht und an den jüdischen Institutionen in der Stadt habe ich nirgends Aufschriften bemerkt. Nicht einmal in deutscher Sprache. Und Leben ist Leben und es geht weiter — und häufig genauso wie einmal. Wien hatte einst eine starke zionistische Bewegung. Es war immerhin die Stadt Theodor Herzls. Hier — und nicht irgendwo anders — hatte sein Leib seit 1904 darauf gewartet, daß man ihn auf Flügeln zu seinem eigenen Berg in Jerusalem brachte, zum Har Herzl (Herzlberg). Und eben da spaziere ich eines schönen Abends über die Ringstraße und gehe am eleganten „Kursalon“ vorbei, wo einst aristokratische Bälle gefeiert wurden. Und auch heute gibt es einen Ball, einen zionistischen Ball der WIZO [Women’s International Zionist Organisation]. Herren in Fracks, Damen mit tiefen Dekolletes, Wiener Walzermusik, Kandelaber strahlen mit hunderten Lämpchen, Paare tanzen elegant. — Ist etwas geschehen seit dem Jahr 1933, seit 1939, 1945? Und vielleicht ist gar nichts geschehen... Im „Kursalon“ hat es tatsächlich diesen Anschein. Ja, Leben ist Leben — und am Jom Kippur beim Totengedenken ist der Seitenstettentempel voll bis zum Rand. Alles ist versunken ins Totengebet. Da und dort — ein Weinen. Ich blicke mich um. Gebetsmäntel, Gebetsmäntel — ein wahres Gewoge. Ich zähle die Säulen, welche das Oval des Tempels halten — es sind zwölf an der Zahl — die zwölf Stämme, denke ich. Aber sie heißen heute schon nicht mehr Reuben, Simeon, Levi - sie werden heute gemäß der Ansiedlung bezeichnet — und hier ist der Stamm Wien... Und ich denke — einfach so — Wieder Juden in Wien — einst war doch auch ich ein Teil dieser Juden — und meine Tochter und mein Sohn sind doch ewig Wiener, sie sind doch in dieser Stadt geboren worden. Und einen Bruder habe ich hier auf dem Friedhof, der einzige Grabstein unserer kleinen Familie ist in Wien und auf ihm sind alle unsere Namen geschrieben, auf ihm findet sich auch mein Name... Und wie ich so nachdenke, sehe ich vor mir auf dem Pult ein Paar dicke Hände, Hände mit einer Unmenge an Ringen, mit einer Menge Brillanten... Und ich denke mir: Nun, für dicke Hände kann man nichts, das ist Veranlagung, da hilft nichts dagegen, aber weshalb muss ein Mann in Wien an solchen dicken Händen so viel Ringe tragen? Und ich blicke von den Händen weiter und sehe einen Gebetsmantel, und unter dem Gebetsmantel höre ich ein Schluchzen: Mame — Mame... Wer kann dich verstehen, jüdisches Volk, wer kann dich richten? Aus dem Jiddischen von Armin A. Eidherr. Melech Rawitsch, 1893 Radymno (Galizien) — 1976 Montreal (Kanada). Ab 1910 Bankangestellter in Lemberg, 1912-21 in Wien. 1921 erster jiddischer Gedichtband. 1921 nach Warschau; Bildung der expressionistischen Schriftstellergruppe „chalJasstre“. Ab 1934 Aufenthalte in Melbourne (Australien), Buenos Aires, New York, Ciudad de Mexico. 1941 nach Montreal. Bekanntestes Werk: „majn lekssikon“ (Mein Lexikon), eine mehrbändige Sammlung biographischer Skizzen über jiddische Schriftsteller. Anmerkungen 1 1972 transferierte die Israelitische Kultusgemeinde ihre Amtsräume vom Schottenring in die Bauernfeldgasse; 1989 folgte die Rückkehr in die Seitenstettengasse. 2 Rawitschs älterer Bruder Mosche Bergner-Harari (geb. 1892) nahm sich 1921, achtundzwanzigjährig, in Wien das Leben und ist am Zentralfriedhof (Tor IV, 11/2/20) begraben. 3 Dr. Akiba Eisenberg kam 1948 aus Ungarn nach Wien, wo er bis zu seinem Tod 1983 als Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde wirkte. 4 Vermutlich in der Lorbeergassse 9. 5 Gemeint war die Misrachi, die seit 1952 ein Bethaus am Judenplatz 8 führt. 6 Über das Schicksal des Wiener jüdischen Museums in der NS-Zeit vgl.: Bernhard Purin (Hg.): Beschlagnahmt. Die Sammlung des Wiener Jüdischen Museums nach 1938. Wien 1995. 7 Über in der NS-Zeit am jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs versteckte Bücher vgl. Evelyn Adunka: Der Raub der Bücher. Wien 2002, 151, 215. 8 Die Überführung der Gebeine Theodor Herzls erfolgte im Jahr 1949. Abraham Singers Antwort Am 20. März 1957 beantwortete Abraham Singer den Brief und den Artikel Rawitschs: Zunächst und vor allem muß ich mich bei Ihnen sehr entschuldigen, daß ich nicht jiddisch schreibe. Ich glaube Sie haben bemerkt, daß meine rechte Hand nicht in Ordnung ist. Heute ist sie noch schlechter und ich kann nicht schreiben. Und jiddisch kann man niemandem diktieren. Also muß deutsch geschrieben werden. Ihr freundliches Schreiben mit Anlage habe ich schon lange erhalten. Warum ich erst heute schreibe? Weil ich vier Wochen im Spital war. Dort habe ich auch Ihren Brief erhalten. Erst vor einigen Tagen bin ich nach Hause gekommen, mache aber schon meinen Dienst. Ich bin noch nicht ganz [gesund]. Das wird in meinem Alter auch nicht mehr, aber es geht zur Not. Und das ist die Hauptsache. Wenn jemand aus dem Auslande kommt, über das jüdische Wien und die Verhältnisse in denen die Juden hier leben etwas erfahren will, kommt er zu mir oder wird vom Sekretariat zu mir geschickt. Ich stehe natürlich jedem und gerne zur Verfügung. Alle verlassen mich mit vielem Dank und der größten Zufriedenheit. Aber ich bitte jeden, wenn über das hier Gehörte ge25