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schrieben oder ein Vortrag gehalten werden sollte, meinen Namen nicht zu nennen. Bei Ihnen scheine ich übersehen zu haben es zu tun. Nun, es tut nichts. Ich sehe, daß man sich gerne einmal in der Zeitung hervorgehoben sieht. Überhaupt wenn es Melech Rawitsch tut. Ich würde Sie aber sehr darum bitten, wenn Sie wieder über Wien schreiben sollten, mich freundlichst nicht zu nennen. Ich fühle mich am besten, wenn ich incognito bleibe. In ihrem Artikel haben Sie mir aber auch zu viel Ehre angetan. Viel zu viel! Haben Sie vielen herzlichen Dank dafür! Ich freue mich, daß Sie das Buch, welches anläßlich des 25jährigen Jubiläums der Czernowitzer Konferenz erschienen ist, aufgetrieben und das bewußte Bild dort gefunden haben. Daß ich bei dieser Konferenz war, daß ich an ihrem Zustandekommen Anteil habe, daß ich dort mitwirken durfte, erfüllt mich mit ehrlichem Stolz. Das Buch ist mir in Czernowitz, wo ich in den Hitlerjahren als Emigrant gelebt habe, verloren gegangen. Als ich im Jahre 1947 die Aufgabe übernahm, die Bibliothek der hiesigen Kehilla aufzubauen, schrieb ich an verschiedene Stellen und natürlich auch an die YIWO. Ich hatte verschiedene Wünsche. Bei dieser Gelegenheit bat ich auch, daß man mir, wenn möglich, ein Exemplar überläßt. Der Brief blieb unbeantwortet. Ich habe es der genannten Institution nicht übel genommen. Absolut nicht nachgetragen und ihr im Laufe der Jahre, ohne daß sie es weiß, verschiedene Dienste geleistet. Ich will es auch weiterhin, sobald ich die Möglichkeit dazu habe, [es zu] tun. Darf ich Sie, sehr geehrter Herr Rawitsch, darum bitten, der YIWO weder zu schreiben noch jemandem etwas davon sagen, was ich Ihnen hier schreibe? In Ihrem Brief schreiben Sie gar nicht wie es Ihnen und Ihrer werten Gattin geht. Ich hoffe gut, wünsche innigst, daß es so wäre und bitte Sie es mir, wenn Sie Zeit, Lust und Geduld haben, zu bestätigen. Und noch etwas: Kommen Sie noch einmal nach Wien? Oder wird Sie der Weg irgendwohin einmal über Wien führen? Wenn ja, schreiben Sie es mir rechtzeitig. Ich muß immer mit großem Bedauern daran denken, daß eine so günstige Gelegenheit nicht für eine entsprechende Veranstaltung ausgenützt werden konnte. Daß man Sie nicht in entsprechend würdiger Weise dem hiesigen jüdischen Publikum vorstellen konnte. Es war aber auch eine so ungünstige Zeit und Sie mußten erst nach Polen, dann nach der Schweiz. Die Feiertage dazwischen und die hiesigen jüdischen Verhältnisse. Schade, sehr schade! Vorüber! Wenn Sie also der Weg einmal nach Wien oder über Wien führen sollte, verständigen Sie mich, bitte, rechtzeitig, damit man entsprechende Vorbereitungen treffen und das leider Versäumte nachholen kann. Wie es mir geht, schreibe ich bereits an anderer Stelle. Ehrlich gesagt, nicht gut, und ob ich noch Gelegenheit haben werde Herrn Melech Rawitsch und seine verehrte Gattin hier zu sehen —- vielleicht. Leben Sie beide recht wohl! Alles erdenklich Gute und Schöne! Gesegnete Arbeit, gute Erfolge und noch vieles andere wünscht Ihnen und Ihrer werten Gattin Ihr hochachtungsvoll ergebener Abraham Singer Schon vor etlichen Jahren ist Ivan Ivanjis Roman über den Volksaufstand in Ungarn erschienen. Er schildert die Ereignisse aus der Perspektive eines jungen jugoslawischen Zeitungskorrespondenten und aus guter Kenntnis der Motive und Überlegungen der den Bund der Kommunisten Jugoslawiens leitenden Personen um Josip Broz Tito. Auch im sozialistischen Jugoslawien, in dessen Budapester Botschaft der glücklose ungarische Ministerpräsident Imre Nagy angesichts der Niederschlagung des Aufstands durch Truppen der Sowjetunion floh, war man besorgt um die Aufrechterhaltung der politischen Stabilität. Dem entstsprechend verfolgt Boba, der junge Jugoslawe in Budapest, den Gang der Ereignisse mit widerstreitenden Gefühlen. Er wird vom Enthusiasmus der demonstrierenden Massen mitgerissen und ist abgestoßen von antisemitischen Parolen und von Lynchjustiz an Angehörigen der Staatssicherheit und kommunistischen Parteifunktionären. So schildert er ausführlich die Belagerung des Gebäudes, in dem sich das Stadtkomitee der Partei der ungarischen Werktätigen befand und das heute Sitz der Sozialistischen Partei Ungarns ist. Die Verteidiger wurden auf dem Platz der Republik füsiliert, nachdem sie sich ergeben hatten. Dieses Massaker vom 30. Oktober 1956 stärkte die Position der Scharfmacher in der sowjetischen Führung und trug damit zum katastrophalen Ende bei. Jvanji arbeitet auch den internationalen Zusammenhang mit der Suez-Krise heraus, bei der Frankreich, Großbritannien und Israel schließlich durch die USA gezwungen wurden, ihre Angriffe auf Ägypten, das den Suezkanal nationalisiert hatte, einzustellen. Die Suez-Krise bot der Intervention der Sowjetunion gewissermaßen Deckung. 26 Für Ivanji, den jüdischen Überlebenden der Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald, besteht ein Zusammenhang zwischen der Beteiligung Ungarns am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und an der Shoah, der stalinistischen Terrorherrschaft seit 1947 und dem Volksaufstand. Er sieht in Ungarn ein Land, das unter der noch im Sommer 1956 herrschenden trügerischen Ruhe von tiefen Gegensätzen zerklüftet war, von ungelösten und unaufgearbeiteten Konflikten erfüllt, die unter der stalinistischen Herrschaft bloß niedergehalten waren. Insofern erscheint ihm der Volksaufstand nicht nur als ein Ausdruck des Strebens nach Freiheit und des Drangs zur Unabhängigkeit, sondern ebenso als unkontrollierter Ausbruch von Ungelöstem, Unausgegorenem und als vielfach wahrgenommene Gelegenheit zur Begleichung alter Rechnungen. Das bedeutet nicht, daß er dem sowjetischen Vorgehen etwas abgewinnen kann. So geißelt er die Infamie der Sieger, die einen Imre Nagy und andere in die jugoslawische Botschaft Geflüchtete mit falschen Versprechungen aus ihrer Zufluchtsstätte locken, um sie dann hinzurichten oder viele Jahre in Gefängnissen verschwinden zu lassen. Ivanji entwickelt aus erlebter Zeitgeschichte einen Roman, der nicht von Ivanji wäre, wenn er nicht auch eine hoffnungslose Liebesgeschichte enthielte. Die Erfahrung des Volksaufstandes führt bei dem jungen Jugoslawen zu einer inneren Distanz zum sozialistischen System, die mit der Trauer um die tote ungarische Geliebte zusammenfällt. K.K. Ivan Ivanji: Ein ungarischer Herbst. Roman. Wien: Picus 1995. 234 S.