OCR
Vortrag am 8. Oktober 2003 im Rahmen der „Wiener Akademie des Exils“, veranstaltet von der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung im Arnold Schönberg Center, Wien. Trotz seines „dreiviertel-faschistischen“ Charakters, seiner Kollaboration mit dem Dritten Reich, trotz seiner antisemitischen Gesetze und seiner berüchtigten Fremdenpolizei (KEOKH) blieb Ungarn bis zur Machtergreifung der Pfeilkreuzler im Jahre 1944 — zumindest von den Nachbarstaaten her betrachte — für viele Naziverfolgte eine „verhältnismäßig ruhige Insel in Europa“ . Man flüchtete hier hin, nicht etwa weil Ungarn so anziehend gewesen wäre, sondern weil seine Nachbarstaaten durch die Nazis noch abstoßender geworden waren. Bis zum Anschluß Österreichs galt für Ungarn der Ausspruch eines magyarischen Parlamentsabgeordneten (Béla Fabian), der 1935 während einer Interpellation im Unterhaus behauptet hatte, daß in sein Heimatland „nur der nicht hereinkomme, der es nicht wolle“. Einerseits, weil die Grenzen für einen illegalen Übertritt ungenügend bewacht waren und andererseits, weil die ungarische Fremdengesetzgebung seit 1930 ganz darauf ausgerichtet war, möglichst viele Touristen ins Land zu holen und deshalb in puncto Einreisebestimmungen als recht freizügig bezeichnet werden darf. Wer über gültige (deutsche oder österreichische) Ausweispapiere verfügte, konnte ohne Sichtvermerk nach Ungarn einreisen und sich hier nach polizeilicher Anmeldung drei Monate lang aufhalten. Versicherte er, daß er sich zu Besuch, zur Erholung oder zu Studienzwecken in Ungarn befände, waren die Behörden ermächtigt, einen längeren Aufenthalt von bis zu sechs Monaten „ausnahmsweise zur Kenntnis“ zu nehmen. Durch eine Ausreise und eine erneute Einreise gelang es finanziell besser gestellten Emigranten, sich über mehrere Jahre hinweg ganz legal in Ungarn aufzuhalten: so z.B. dem Schriftsteller Otto Zarek, der sich in Ungarn dermaßen heimisch fühlte, daß er in einem Beitrag für den deutschsprachigen Pester Lloyd seine Schicksalsgenossen aufrief, es doch einmal mit Ungarn versuchen zu wollen. Ein generelles Arbeitsverbot für Emigranten existierte nicht. Die Arbeitserlaubnis war von der Erteilung der Wohnbewilligung abhängig und mußte, sofern keine selbständige Erwerbstätigkeit angestrebt wurde, vom Arbeitgeber eingeholt werden. Dieser hatte den sogenannten Nachweis der Unentbehrlichkeit zu bringen, das heißt glaubhaft zu machen, daß für die in Frage kommende Tätigkeit kein ungarischer Arbeitnehmer zur Verfügung stehe. Man würde dem Phänomen jener Flüchtlinge, die glaubten, ausgerechnet bei Horthy (sprich bei Gömbös oder Imredy) Schutz vor Hitler finden zu können, keineswegs gerecht werden, nähme man an, daß es sich bei ihnen vorwiegend um völlig apolitische oder sogar um ausschließlich konservativ bis faschistoid eingestellte Personen handelte. Auch sie gab es, wie sich schon der nach Ungarn emigrierte Franz Jung zu erinnern wußte , doch sind sie keineswegs repräsentativ. Viel zu komplex waren im einzelnen die Entscheidungsgründe und viel zu zwingend die historischen Situationen, die eine Flucht gerade in ein Land wie Ungarn bedingten. So lassen sich - meinen Berechnungen zufolge — bei über 50% der Flüchtlinge, die über die Grenze nach Ungarn gelangten, irgendwelche ungarischen Familienbande nachweisen. Und es ist sicherlich wohl auch kein Zufall, wenn gerade in den Jahren 1938 bis 1939 mehr Flüchtlinge den Weg nach Ungarn fanden als in dem gesamten Zeitraum davor. Ungarn grenzte nun einmal an das soeben angegliederte Österreich und die restlichen von den Hitlerfaschisten überfallenen Nachbarstaaten. Jenen, die durch die Ausdehnung des Machtbereichs Hitlers in ihrer Existenz bedroht waren, blieb vielfach gar keine Zeit, um sich den Luxus eines langen Sinnierens über die Staatsform des Nachbarlandes und das Für und Wider einer Flucht dorthin zu erlauben. Ihr Bestreben war es einzig und allein, auf dem schnellsten und möglichst kürzesten Wege - legal oder illegal — irgendeine Grenze zu überwinden, um dann in einem hitlerfreien Raum erst einmal wieder frei aufatmen zu können. Massive Zurückweisung von jüdischen Flüchtlingen durch die ungarischen Grenzorgane und zahlreiche Abschiebungen von Flüchtlingen, die in die Razzien der Fremdenpolizei gerieten, gehören auch zur ungarischen Wirklichkeit jener Jahre. Abgeschoben wurde in der Regel jedoch nicht nach Deutschland, sondern in Drittländer. Eine Ausnahme war der 1939 nach Budapest geflüchtete österreichische Chemiker Kurt von FlammerdingheBehagel, der auf Betreiben der Deutschen Gesandtschaft 1941 ausgeliefert wurde. Exilorganisationen, Exilverlage oder Exilperiodika deutschsprachiger Emigranten wird man in Ungarn — bedingt durch die politischen Verhältnisse — vergeblich suchen. Die Spuren, die die deutschsprachige Emigration in Ungarn hinterließ, sind jedoch nicht zu übersehen. Erwähnt seien hier nur die 180 Titel deutschsprachiger Exilautoren, die bis 1944 in ungarischen Verlagen erschienen , und jene 2.076 Beiträge von oder über deutschsprachige Emigranten, die sich in den linken, liberalen und jüdischen Presseorganen jener Jahre nachweisen lassen. 27