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Ungarn war nie frei von Antisemitismus. Die Magnaten und die Gentry, die führenden Klassen, distanzierten sich von den Juden aus Standesdünkel, und das ländliche Proletariat aus Neid. Dennoch magyarisierten sich die Juden. Sie bekannten sich mehrheitlich zum Ungartum. Schon von den Freiheitskämpfen Kossuths erhofften sie sich Anerkennung. Doch erst der österreichisch-ungarische „Ausgleich“ 1867 brachte ihnen die Emanzipation. Die Juden Ungarns bildeten im königlich-ungarischen Nationalitätenstaat keine eigene Volksgruppe. Sie bildeten aber einen wichtigen integralen Bestandteil der politischen Nation. Mit dem Bekenntnis der Juden zum Magyarentum erreichten die Ungarn auch die nationale Majorität im Staat. Diese proungarische Haltung der Juden wurde 1895 durch die Aufnahme in die Reihe der anerkannten Religionsgemeinschaften honoriert. Trotz der Magyarisierung und Integrierung in das Ungartum hinkte die gesellschaftliche Anerkennung der Juden nach. Sie blieb schließlich gänzlich aus. Der Zusammenbruch der Doppelmonarchie im Oktober 1918 brachte Michael Kärolyi an die Spitze der Regierung. Zu seinen engsten Beratern gehörten einige Juden, wie der weltbekannte Historiker Oszkar Jäszi. Kärolyi hatte gute Vorsätze, um Ungarn in den europäischen Staatenbund einzuführen. Er machte Ungarn zu einer Republik, führte das allgemeine Wahlrecht ein und versuchte eine Bodenreform durchzuführen. Politisch wollte Jaszi Ungarn in die „Schweiz des Ostens“ umwandeln. Doch alle diese guten Pläne und Absichten scheiterten an der uneinsichtigen Haltung der Waffenstillstandskommission, an den inneren Unruhen, verursacht durch die heimkehrenden Soldaten, sowie an der Unterversorgung der Bevölkerung. Als Kärolyi auch noch die Verteidigung der festgelegten Demarkationslinien untersagt wurde, resignierte er. Die Regierungsgeschäfte übernahmen die vereinigten Arbeiter: Sozialdemokraten und Kommunisten, unter der Bezeichnung „Räteregierung“. In ihren Reihen befanden sich verhältnismäßig viele Juden. Die Räte begannen sogleich ihre politische Ideologie in die Tat umzusetzen. Sie verstaatlichten die Großbetriebe und Banken. Aus den großen Latifundien des Hochadels sollten Kollektivfarmen entstehen. Doch für die Umsetzung dieser Zielsetzungen fehlte ihnen die Zeit. Denn der Staat wurde auch von außen bedroht. Innerhalb kürzester Zeit stellten sie eine riesige Armee, die Rote Garde, auf, die die vorrückenden Tschechen zurückdrängte. Gegen die eindringenden Rumänen untersagte ihnen die Waffenstillstandskommission die Verteidigung. Die Rote Garde löste sich auf. Die Rumänen drangen gegen die Hauptstadt vor, und damit verlor die Räteregierung ihre Basis. Mittlerweile hatten sich, mit Billigung französischer Besatzungsgruppen, konterrevolutionäre Gruppen in Wien und in Szeged unter der Führung von Miklös Horthy gesammelt. Sie übernahmen die Macht im Lande; — rückten allmählich gegen Westungarn vor. Als im November 1919 Budapest von den Rumänen geräumt worden war, rückte Horthy, auf einem Schimmel reitend, in der Hauptstadt ein. Dem sogenannten „roten Terror“, dem an die 500 Personen zum Opfer gefallen waren, folgte nun der viel schrecklichere „weiße Terror“, dei au die 5000 Menschenleben forderte. Die Freikorpsverbände von Pronay, Ostenburg und He&jjas wüteten gegen Juden, Bauern und liberal eingestellte Personen.-Das Herrschaftssystem Horthys bemän34 telte den „weißen Terror“ mit antibolschewistischen Ausreden. Ideologisch stand Gyula Gömbös damals Horthy nahe. Er vertrat die antisemitischen, nationalistischen und irredentistischen Ideen des „Erwachenden Ungarn“ wie der „Rassenschutz“Gruppierungen, die die Magyaren als höherwertige Individuen betrachteten. Mit dem Friedensvertrag von Trianon 1919/1920 verlor Ungarn große Teile seines historischen Territoriums. Die Juden, bislang Stütze des Ungartums, verloren zunehmend ihre Bedeutung. Ein neuer, verstärkter Nationalismus, mitverursacht durch die Vertreibung der ungarischen Staatsdiener aus den abgetretenen Gebieten, radikalisierte den vorhandenen latenten Antisemitismus. Forderungen wurden aufgestellt, die Juden aus allen Gebieten des öffentlichen Lebens zurückzudrängen und letzlich überhaupt zu vertreiben. Schon 1920 erließ man einen Numerus clausus (Gesetz XXV vom 22.9. 1920) für jüdische Studierende — deren Anteil durfte das Ausmaß von sechs Prozent an höheren Ausbildungsstätten nicht überschreiten. Diplome ausländischer Universitäten wurden akzeptiert, wodurch der Numerus clausus unterlaufen und unwirksam wurde. Still und leise wurde er daher mit Gesetz XIV/1928 aufgehoben. In den 1920er Jahren konsolidierte sich die Lage in Ungarn. Die Weltwirtschaftskrise brachte allerdings wieder radikalere Elemente ins Rampenlicht der Poltik. 1932 wurde der extrem rechte, antisemitische und faschistisch gesinnte Gömbös Regierungschef. In seinem 97 Punkte umfassenden politischen Programm versprach er allen alles. Er wollte die Gewerkschaften zerschlagen, eine kleine Bodenreform durchführen und Ungarn in einen Ständestaat verwandeln. Er war vom Nationalsozialismus sehr beeindruckt und besuchte als erster Staatschef Hitler. Während seiner Regierungszeit nahm der Antisemitismus in Ungarn wieder zu. Gömbös, der alles umformen und reformieren wollte, verstarb unerwartet 1936, ohne einen einzigen Punkt seines Programms verwirklicht zu haben. Ihm folgte als Regierungschef der ultrakonservative Kälmän Daränyi. In seiner Regierungszeit kam es zum „Anschluss“ Österreichs. Ungarn hatte nun eine gemeinsame Grenze mit Deutschland, wodurch der nationalsozialistische Einfluss auf Ungarn stark zunahm. Daränyi initiierte die ungarische Judengesetzgebung. Im März 1938 verlangte er in einer Rede in Györ die Zurückdrängung des jüdischen Einflusses in Ungarn. Kurz darauf wurde das erste „Judengesetz“ (Gesetz XV vom 24.5. 1938) erlassen. Als Jude wurde definiert, wer jüdische Eltern und mindestens zwei jüdische Großelternteile hatte. Wer jedoch vor dem 1.8. 1919 aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten und konvertiert war, galt als Nichtjude. Nach diesem Gesetz sollte der jüdische Anteil in den Leitungen von Großbetrieben, im Bankwesen und in der Industrie auf 20 Prozent herabsetzt werden und gleichermaßen in den verschiedenen Berufsvertretungen wie Gewerbe-, Ärzte-, Pressekammer. Ausgenurmmen von diesem Gesetz waren: Kriegsinvalide und -opfer, Tapferkeitsmedaillenträger, Geheimräte, Universitätsprofessoren, sowie Olympiasieger.