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Bevor Magda Breisach mit ihren Eltern nach Budapest zurückkehren durfte, wurden alle Lagerinsassen, bis auf 250 Leute, nach Polen deportiert. Die Geretteten landeten erneut im Budapester Zuchthaus. Eduard Breisach wurde dort nach den fünfmonatigen Strapazen ins Gefängnisspital eingewiesen. Die Budapester Fremdenpolizei überprüfte die Dokumente der Familie Breisach und ordnete ihre Entlassung aus dem Gefängnis an. Die antisemitischen Pfeilkreuzler-Polizisten beschlagnahmten jedoch alle ihre Dokumente und sperrten sie wieder ein. Als sie fast alle Hoffnung aufgegeben haben, aus dem Gefängnis herauszukommen, wurden sie befreit. Eine schwedische Kommission, die unter anderem Kantor, die Mautners und Breisachs in allen Lagern suchte, fand lediglich die Breisachs im Budapester Zuchthaus. Sie wurden dank eines Schutzbriefes von Raoul Wallenberg entlassen." Es war an einem Samstag, wie denn merkwürdigerweise alle Veränderungen während der ganzen Zeit unserer Gefangenschaft von dem Tag an, als uns die SS von Derekegyhdza wegbrachte, auf einem Samstag gefallen waren. Dieser Samstag sah jedoch besser aus. Es erschien ein Vetter von uns und sagte, wir sollten uns bereithalten. Die belagerte Stadt Die Befreiten zogen in die Wohnung einer ehemaligen Wirtschafterin und Gesellschafterin der Familie Mauthner ein. Sie durften dort bleiben, weil inzwischen ihre Originaldokumente aus Wien eingetroffen waren, sonst hätten sie in den jüdischen Häusern wohnen müssen. Sie weigerten sich, in die schwedischen Schutzhäuser umzuziehen, derer Bewohner von den Pfeilkreuzlern immer wieder terrorisiert wurden. In der belagerten und bombardierten Stadt lebten alle in ständiger Angst. Die Eltern Breisach wagten sich kaum auf die Straße, wo die Pfeilkreuzler willkürliche Kontrollen ausübten. In der gastlichen Wohnung wurde es jedoch immer enger, da dort Flüchtlinge aus der Provinz, die schon von den Russen besetzt war, Zuflucht fanden. Besonders schmerzlich wurde es, als die Haushälterin illegal lebende Juden, die sich überall nur kurze Zeit verstecken durften, wegschicken musste. Ende November wurden Magda Breisach und ihre Mutter von ungarischen Detektiven abgeholt. Der Vater war schon so geschwächt, dass er im Bett bleiben durfte. Da ihre Dokumente in Ordnung waren, wurden die beiden Frauen wieder entlassen. Den schwedischen Schutzbrief zeigten sie vorsichtigerweise nicht den Behörden. Bald danach traf die überraschende Nachricht ein, dass sie in die Schweiz abreisen dürfen. Die Reise in die Schweiz Sonntag, den 10. Dezember, wurde ich am Morgen in ein Büro bestellt, wo ich Speck und Bohnen holen sollte, die uns jemand aus der Provinz mitgebracht hatte ... Als ich um ca. 10 Uhr heimkehrte, stand mein Vetter mit einem unbekannten Herren bei den Eltern und forderte uns auf, in 2 Stunden reisefertig zu sein, wir sollten noch denselben Nachmittag in die Schweiz abreisen. Enigeistert schaute einer den anderen an, denn — trotzdem es das war, was wir uns ersehnten — empfand keiner von uns in diesem Augenblick wırkliche Freude. Gegen Abend saßen sie schon mit fünf anderen Personen in einem Lastwagen und bewegten sich in Richtung Wien. Unter einer zerrissenen Plane zitterten sie vor Kälte und Angst, weil 40 sie von Deutschen und Russen unzählige Male kontrolliert wurden. Nach einer Geisterfahrt, die 24 Stunden dauerte, erreichten sie ihre Geburtsstadt, die in Trümmern lag. Sie wurden zuerst zur Gestapo im Hotel Metropol, dann zum größten Sammel- und Verteilungslager in der Castellezgasse gebracht. Sie weigerten sich auszusteigen, bis sie schließlich in einem Altersheim im 2. Bezirk landeten. Nach scheinbar endlosem Warten wurden sie von dort — wieder an einem Samstag — zum Westbahnhof gebracht.’ Sie besaßen weder Papiere noch Fahrkarten oder Geld. Die Reise ins Ungewisse begann dramatisch, die Tür des Wagenabteils „für jüdische Häftlinge“ ließ sich erst nach dem Eingriff eines Schlossers öffnen. Es war nur der Anfang von weiteren Abenteuern. Da die Geleise bombardiert wurden, fuhren die acht Passagiere abwechselnd mit Lastwagen, Bussen oder wieder mit der Bahn. Sie überlebten Luftangriffe, übernachteten in einem Gestapokeller in Bregenz, bis sie die Schweizer Grenze erreichten. Ich glaube, die Bedeutung dieses Augenblickes kann nur der ermessen, der so wie wir, monatelang dem Tode so nahe war. Eine elektrische Lampe, ein gemütlich beleuchtetes Haus, ein freundlicher, mitleidvoller Zollbeamter, es war alles wie in einem Märchen. Die Gefühle und Eindrücke der Geretteten verdienen Respekt. Die gleichen freundlichen Zollbeamten hatten jedoch Jahre lang jüdische Flüchtlinge an der Schweizer Grenze abgewiesen. Die acht Reisenden gehörten zu den prominenten Ausnahmen. Magda Breisach beendete ihre Erinnerungen ein halbes Jahr nach ihrer Befreiung im Sommer 1945. Die Familie Breisach blieb in der Schweiz bis zum Tode von Eduard Breisach im Mai 1949, dann übersiedelten Dora und Magda Breisach wieder nach Wien. Helena Kanyar Becker, Historikerin, Fachreferentin der UB Basel. Forschungsschwerpunkt: soziokulturelle Minderheiten, Publikationen und Ausstellungen, Veranstaltung „Gerettete Leben“ (über ungarische Juden), Universität Basel, 2005. Anmerkungen 1 Lic. phil. II Christa (Krisztina) Markovits-Barabäs (* 1936) und ihre Zwillingsschwester Viktoria Nemeth-Barabäs waren von Juli bis Ende November 1944 im Sophianum/Philippineum bei den Herz-JesuSchwestern (SCJM) versteckt. Die Eltern Barabäs fanden — mit falschen Papieren und getrennt — Unterschlupf bei Freunden und Bekannten. Die jüdische Familie Barabäs kam Anfang Dezember 1944 wieder zusammen und konnte unter falschem Namen als ausgebombte Christen aus Szeged in der Wohnung eines deportierten Juden den Pfeilkreuzler-Terror überleben. Die Oberin der SCJM, die Schweizerin Hildegard Gutzwiller, beherbergte im Budapester Kloster Sophianum/Philippineum 1944/45 etwa 250 Personen aller Konfessionen, davon 38 bedrohte jiidische Frauen und eine größere Zahl Kinder, die dort zu verschiedenen Zeiten wohnten. Die Oberin wurde 1995 in Yad Vashem in Jerusalem als Gerechte der Völker ausgezeichnet. Vgl. Jörg Gutzwiller: Sanfte Macht. Hildegard Gutzwiller, eine mutige Christin, die Juden rettete. Freiburg 1998. Und: Meier Wagner: The Righteous of Switzerland. Heroes ofthe Holocaust. Hoboken 2001, 205-209. Christa (Krisztina) Markovits-Barabäs emigrierte 1956 in die Schweiz. Nach ihrem Physikstudium in Zürich arbeitete sie im Paul