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Bei ihm sah ich die von der Zensur geschwärzten Druckfahnen der damals liberalen „Magyar Nemzet“. Der jüngere Bruder Gyula Robert hatte seinen Namen magyarisiert. Seine Frau Joli arbeitete damals als Sekretärin des Generaldirektors eines der größten Industrieunternehmens Ungarns. Jenö Reich wurde von den Pfeilkreuzlern im Spätherbst 1944 zum Fußmarsch nach Österreich gezwungen und unterwegs erschossen. Seine Frau überlebte und heiratete noch einmal. Ich habe sie nie wieder gesehen. Onkel Gyula war Buchprüfer und bis 1944 selbstständig. Er und seine Frau überlebten im Budapester Ghetto. Beide Onkel waren im Galilei-Kreis — einem marxistischen Intellektuellenklub - bereits vor dem Ersten Weltkrieg tätig. Beide hatten eine wunderbare Bibliothek und legten Wert darauf, die aktuellsten Bücher in deutscher Sprache zu besitzen, die sie von ihren Auslandsreisen, vor allem aus Bratislava, mitgebracht hatten. Anstatt die Hausaufgaben zu machen, besuchte ich nachmittags oft diese Onkel, ließ mir eine Tasse heiße Schokolade und ein Butterbrot bzw. Kuchen geben und las alles, was mir unterkam. Anatol France, Ilya Ehrenburg, Egon Erwin Kisch und Ignazio Silone sind mir noch in Erinnerung. Den Sommer verbrachte ich alljährlich bei meinem Onkel Arthur in Balatonboglär am Plattensee. Dieser Onkel hatte seinen Namen auf Puskas magyarisiert. Er war Holzhändler und Direktor des lokalen Wasserwerks. Onkel Arthur war der jiingere Bruder meines Vaters und unterstützte nun unsere Familie und die seiner älteren Schwester Gizella. Diese Sommerurlaube in Balatonboglär sind mir lebhaft in Erinnerung, es war herrlich, zwei Monate nicht ins Gymnasium gehen zu müssen. Und ich wurde von meinen beiden älteren Cousins und der Cousine Anikö verwöhnt. Sie alle wurden in Auschwitz-Birkenau ermordet. Ganz anders waren die Verwandten meiner Mutter. Da war Tante Juliska und ihre beiden Brüder, die nicht weit vom Ostbahnhof in einer Wohnung zusammenlebten. Hier herrschte konservativer Geist. Es muss knapp nach unserer Ankunft in Ungarn gewesen sein, als wir zum Mittagessen eingeladen wurden. Nach dem Mittagessen erhielten die Erwachsenen Kaffee, wobei das Dienstmädchen eine Tasse Herender Porzellan fallen ließ. Tante Juliska sagte auf Deutsch „So eine Bäuerin“, weil auf Ungarisch damals das Wort Bauer als Synonym für unerzogen, roh verwendet wurde. Ich erinnerte mich noch aus der Volksschule in Baden, wie Bauern immer wieder gelobt und als Beispiel genannt wurden, und meinte vorlaut „Bauern sind doch auch Menschen“, was mir eine Ohrfeige meines Vater eintrug. Tante Juliska erzählte Geschichten über einen mir unbekannten Ort, über Tiszaeszlär. Viel später sollte ich von der Ritualmordbeschuldigung gegen die Juden dieser kleinen Ortschaft im Nordosten Ungarns erfahren. Juden, die sich taufen ließen, oder sich sonst wie gegen das Judentum wandten, wurden Möritz Scharf genannt. So hieß ein vierzehnjähriger jüdischer Junge in Tiszaeszlär, der 1883 durch Schläge und Versprechungen dazu gebracht wurde, seinen Vater eines Ritualmords an einem christlichen Mädchen zu beschuldigen. Bezeichnend für Ungarn ist, dass noch nach der Befreiung 1945 solche Gerüchte auf dem Land ausgestreut wurden und es zur Ermordung von Überlebenden kam. Tante Juliska überlebte und nahm nach dem Krieg meine Cousine Juci zu sich. In Szombathely (Steinamanger) lebte der Bruder meiner Mutter, Jöska. Er war Beamter bei der Eisenbahn und hatte die Jüngere Schwester eines katholischen Pfarrers, die zum Judentum konvertiert war, geheiratet. Sie hatten drei Kinder. Nach der deutschen Besetzung bat die Schwester ihren Bruder, ihrer Familie zu helfen. Der Pfarrer sagte, dass er ihr helfen könne, denn sie sei vom gleichen Blut, aber nicht ihrer Familie. Sie aber ging mit ihrer ganzen Familie den Weg zum Frachtenbahnhof, von wo sie alle im Viehwaggon nach Auschwitz-Birkenau verbracht wurden. Nur die beiden Töchter, die das Glück hatten, von Auschwitz zum Aufräumen von Bombenschäden nach Deutschland zu kommen, überlebten den Krieg. Dann gab es die Familie Märai. Sie war ganz assimiliert. Tante Ilonka war Ungarischlehrerin in einer katholischen Schule und ganz stolz darauf, dass Reichsverweser Horthy ihr 1938 die Hand gegeben hatte. Sie fühlte sich als ungarische Patriotin, und als ich bekanntgab, das Land verlassen zu wollen, brachte sie mich mit einem enttäuschten Rückkehrer aus Palästina zusammen, der mich von meinem Plan abbringen sollte. Dies konnte ihm nicht gelingen. Da war ich schon begeistertes Mitglied der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung Haschomer Hazair. Der fast tägliche Besuch im Ken (Nest) und der sonntägliche Ausflug mit meiner Jugendgruppe gaben mir ein Gefühl der Dazugehörigkeit. Am aktivsten waren in der Bewegung Flüchtlinge aus der Slowakei, die in der Regel in ihren Heimatorten Hebräische Gymnasien besucht hatten und uns über den Massenmord an Juden in Polen aufklärten. Über die Slowakei kamen auch junge Flüchtlinge aus Polen, mit denen wir aber keinen Kontakt hatten. Zuhause hörte ich manchmal Radio. Obwohl es streng verboten war, drehte ich, wenn ich alleine war, solange am Knopf, bis ich Radio London hörte. Die Nachrichten waren gar nicht gut am Anfang. Und oft genug hörte ich das mich zutiefst erschreckende Brüllen von Hitler. Mein Vater nannte Hitler immer nur Lampas, d.h. StraBenlaterne, denn auf einer solchen miisse dieser Verbrecher aufgehängt werden. Später als ich mit meinem Vater nur mehr über das Rote Kreuz korrespondieren konnte, d.h., einen Brief mit 25 Worten senden konnte, schrieb ich meinen Vater, dass Onkel Lämpäs todkrank sei. Ungarn schien damals ein Paradies zu sein, mitten in einer Welt voll Unglück und Elend. Es gab genug Lebensmittel, auch wenn Karten eingeführt worden waren. Die Erwachsenen schwärmten vom politischen Kabarett, in dem die Nazi und ihre ungarischen Helfershelfer verspottet wurden. Und wochenlang summten die Verwandten das Lied „Oi oi oi, az Imr&dy se goi“ vor sich hin. Bela Imrédy war der ex43