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Zunächst aber waren Züge zusammenzustellen, in denen die bereits erwähnten 15000 Menschen aus Ungarn nach Österreich transportiert wurden. Rudolf Kastner berichtet von Willkür auf Seiten der SS: „Der Zufall mischte sich ein und machte sich zum Richter über Leben und Tod.“ " Züge mit Menschen, die auf den Auswahllisten standen, gingen nach Auschwitz, andere Züge, in denen niemand mit einem Listeneintrag war, wurden nach Österreich geleitet. Und mitten in Budapest, in der Columbusgasse, gab es ein „Bevorzugtenlager“ Rudolf Kastner hat es in seinem Bericht beschrieben: „Am Tor stand ein SS-Mann Wache. Hinter ihm, im schattigen Garten, befanden sich, völlig ungestört, die 388 Juden aus Klausenburg, später auch die prominenten Juden aus den übrigen Provinzghettos. Die Wache hatte ganz strenge Befehle. Niemand durfte das Lager betreten, keine militärische oder polizeiliche Behörde, weder Deutsche noch Ungarn. Selbst der deutschen Gestapo war der Eintritt verwehrt. Die Wache stand nicht da, um zu verhindern, dass Juden das Lager verließen, sondern um den Zutritt zu verwehren.“ In dieser Schein- Idylle und in zwei für diese Zwecke hergerichteten Synagogen sammelten sich schließlich 2000 Menschen. Am 6. Juni 1944 hatten die Alliierten Truppen in der Normandie Europas Festland betreten und waren auf dem Vormarsch Richtung Osten. Bald darauf setzten sich die katholische Kirche und der amerikanische Präsident für die ungarischen Juden ein, und in der Schweiz wurde ein „Pressefeldzug“ (Kastner) gestartet, mit dem auf die verzweifelte Lage der ungarischen Juden hingewiesen wurde. Ende Juni schließlich wurde aufgrund einer Vereinbarung zwischen Eichmann und der Gruppe um Rudolf Kastner ein Transport zusammengestellt, der über Deutschland, Frankreich und Spanien gehen sollte. Die zu diesem Zweck vorbereitete Liste von 1300 Personen „stellte unser Komitee vor eine unbarmherzige Aufgabe“, schrieb Kastner. „Diese Gruppe stellte einen Miniatur-Querschnitt der damals in Ungarn lebenden Judenheit dar. Diejenigen, die sich in der Vergangenheit um das Judentum verdient gemacht hatten, sollten durch besondere Berücksichtigung geehrt werden.“ ‘Der SS-Wirtschaftsstab unter Kurt Becher hatte ebenfalls eine Liste, und zwar mit wohlhabenden Personen mit Angehörigen, die gegen Geldbeträge „Schutzpässe“ bekommen hatten. Becher bestand darauf, sie ebenfalls auf diesen Transport ins Ausland zu schicken. Schließlich kamen nach einem Luftalarm noch 450 Menschen aus einer der Synagogen hinzu, die sich einfach zum Bahnhof begeben hatten. So kam die Zahl von 1684 Personen zusammen. Nach längerem Aufenthalt an der Grenze gelangte der Transport schließlich nach Wien. Kastner schrieb: „Am Wiener Bahnhof wurde die Gruppe mit frischem Essen erwartet; in Linz mussten die 1684 zu einer Desinfektionsstelle, wo ein heißes Bad vorbereitet war. Eine Sekunde Entsetzen: Der Duschraum sah einer anderen, aus den Auschwitzer Berichten gutbekannten Institution sehr ähnlich. Doch der Schrecken wich bald. Diesmal war es wirklich ein Bad; und die Gruppe setzte ihren Weg fort. Am 8. Juli trafen alle in Bergen-Belsen ein.“ IV An den Transport der 1684 erinnerte sich Kurt Becher vor dem Amtsrichter in Bremen so: „Als Himmler die Ausreise von zirka 1700 Personen genehmigt hatte — nach meiner Erinnerung im Juni oder Juli 1944 — und die von dem jüdischen Komitee 64 bestimmten Personen bereits in den Raum von Wien in Marsch gesetzt werden sollten, hörte ich von Dr. Kastner, dass Eichmann Anweisung gegeben hätte, den Transport nach Bergen-Belsen in Marsch zu setzen. Ich habe auf Wunsch von Dr. Kastner daraufhin sofort mit Eichmann gesprochen und dieser hat mir nach meiner Erinnerung etwa erklärt: ‚Jawohl, der Transport geht aus technischen Gründen nach Bergen-Belsen!’ Auf meine Frage, warum nach Bergen-Belsen und warum nicht gleich in Richtung Schweiz, erklärte er mir: ‚Die Leute sollen erst nach BergenBelsen!’ Auf meine Frage, wann der Transport weitergehe, erklarte Eichmann: ,Sobald dies befohlen wiirde!’ Er setzte hinzu, dass es letzten Endes in seiner Hand lage, wann der Transport rolle; denn es gäbe genügend Argumente auch gegenüber Himmler dafür, dass der Transport nicht abginge. Zum Beispiel könne Flecktyphus ausgebrochen sein. Der Transport könne ja auch unterwegs durch feindliche Bombenangriffe vernichtet sein. Ich habe mich wegen dieses Transportes erneut mit Himmler in Verbindung gesetzt und schließlich erreicht, dass der Transport wirklich in die Schweiz ging.‘ Widerspriiche in den Darstellungen von Kastner und Becher ergaben sich einerseits aus dem zeitlichen Abstand zum Geschehen. Becher stellte bei seiner Vernehmung in Bremen vorsichtshalber fest: „Es ist... nicht ausgeschlossen, dass mich mein Erinnerungsvermögen zu dem einen oder anderen Punkt täuscht.“ Andererseits gelangten die 1684 Personen, die in BergenBelsen gestrandet waren, tatsächlich nach und nach in die Schweiz. Das machte allerdings einen neuen, komplizierten Handel nötig. Kastner schrieb: „Wir bestanden darauf, dass die 1.684000 Dollar schon längst überzahlt worden seien. Becher bestritt es; er machte jedoch einen ‚Kompromiss-Vorschlag’. Er könne sich nicht nur mit Zahlungen begnügen; die ursprüngliche deutsche Forderung laute auf Waren, und zwar auf kriegswichtige Waren. Er würde auch mit ,harmloser’ Ware zufrieden sein. Daraufhin wurden Bescheinigungen besorgt tiber die Bereitstellung von Traktoren und Schaffellen. Tatsächlich geliefert wurden fünfzehn Tonnen Kaffee. „Nun durften die 1684 Menschen als von uns endgültig ‚gekauft’ betrachtet werden. Der Befehl zu ihrer Ausreise wurde vorerst aber noch nicht erteilt. Eichmann hatte seine Bedenken. Er sah in der Gruppe ein wertvolles Pfand. Er meinte, hier handle es sich um Juden, die für das Ausland besonders wichtig waren und mit denen ein weiterer Druck auf die jüdischen Organisationen ausgeübt werden könnte.“ Zwischendurch wurde Kastner von der ungarischen Gendarmerie entführt und über seine Verhandlungen mit den Deutschen ausgefragt. Nach seiner Freilassung gingen die Bemühungen um die Bergen-Belsen-Gruppe weiter. Im August 1944 war Kurt Becher bei Heinrich Himmler vorstellig geworden. „Ich hatte mich persönlich gegenüber dem jüdischen Komitee auf Grund der Zusage Himmlers an mich verpflichtet, für die Ankunft dieser Menschen in der Schweiz zu sorgen. Ich habe wiederholt bei Himmler insistiert, dass dieser Transport weitergehen müsste. Himmler hat mir trotzdem zunächst nur zugesagt, dass im August 500 Personen ausreisen könnten. Ich weiß, dass Himmler diesen Befehl gegeben hat. Trotzdem kam nur ein Transport mit 318 Menschen im August über die Schweizer Grenze. Ende Oktober hat mir Himmler schließlich zugesagt, dass nunmehr die restlichen Personen abreisen könnten. Ich habe diese Erklärung verbindlich Herrn Präsident Mayer