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Warschau nach Budapest, wo sie nach vergeblichen Versuchen, Kontakt zu Joel Brand und Rudolf Kastner aufzunehmen, beim Presseattaché der schwedischen Botschaft, Valdemar Langlet, Unterschlupf fanden. „Der Name Valdemar Langlet wurde“, schrieb Hermann Adler in einer achtseitigen Selbstauskunft, „sehr zu Unrecht, überschattet von dem Namen Raoul Wallenberg. ... Wallenberg ist ein Märtyrer seiner Aufgabe geworden. Professor Langlet, nur Schwedischer Presse-Attaché ohne königlichen Rettungsauftrag, hat Großartiges vollbracht, ohne Märtyrer zu werden.“ Eine geplante Flucht nach Palästina über Rumänien scheiterte dramatisch. Die Adlers wurden inhaftiert und nach BergenBelsen deportiert. Sie gehörten zu den 1684 Juden, die in die Schweiz gelangten. In seiner Selbstauskunft schrieb Hermann Adler: „Wir wissen heute, dass unsere ... Gruppe hauptsächlich Rudolf Kastners politischem Vorgehen das Leben verdankt. ... Kastner selbst verhandelte an der Grenze mit dem Vertreter des Israelitischen Gemeindebundes und mit einem zuständigen Vertreter der schweizerischen Behörde, damit man uns die Grenze überschreiten lasse.“ Es war ihre Rettung, auch wenn die erste Zeit im Militärlager in Caux-sur-Montreux alles andere als angenehm war. Anita Adler-Distler wurde nach dem Krieg an das Baseler Opernhaus engagiert, Hermann Adler begann zunächst illegal, dann legal, für den Schweizer Rundfunk zu arbeiten, später auch für westdeutsche Radiostationen. Seit 1960 waren beide „Schweizerbürger“. Hermann Adler starb am 17. Februar 2000 in Basel. VI Im Spätsommer 1944 fanden zwei Treffen zwischen Rudolf Kastner, Kurt Becher und Saly Mayer vom „Joint“ „auf der kleinen Brücke, die zwischen Höchst und St. Margrethen über den Rheinkanal führt und die die Schweiz mit Österreich verbindet““ statt. Beide Gespräche waren erfolglos, und auch ein drittes Treffen am 28. September verlief erfolglos. Saly Mayer, erfuhr Kastner, „schien es fast als persönliche Beleidigung aufzufassen, dass man ihm ‚in dieser verdammten slowakischen Angelegenheit die Hand forcieren’ wollte. Er lasse sich nicht erpressen. Nach langen Anstrengungen stimmte er zu, Becher Geld zu versprechen.“ In drei Raten sollten fünfzehn Millionen Schweizer Franken vom „Joint“ an Kurt Becher fließen, um drei Bedingungen zu erfüllen: „Einstellung der Aktion gegen die Juden in der Slowakei; Verzicht deutscherseits auf die Deportation der Budapester Juden; sofortige Ausreisebewilligung für den Rest der Bergen-Belsen-Gruppe in die Schweiz.“ In Kastners Bericht ist ein Telegrammwechsel zwischen Adolf Eichmann und seinem effizienten Exekutor Alois Brunner im Hinblick auf die slowakischen Juden überliefert: „Eichmann an Brunner: ‚Der Joint-Jude Kastner behauptet, die hier angeführten Juden wären in der Lage, Warenlieferungen vorzunehmen. Falls dies der Wirklichkeit entspricht, veranlassen Sie die Belassung dieser Personen in Pressburg und strenge Überwachung derselben.’ Brunner an Eichmann: ‚Die Behauptung des Joint-Juden Kastner erlogen. Warenlieferung seitens der Juden würde das deutsch-slowakische Verhältnis störend beeinflussen. Die Jüdin Gisi Fleischmann wurde von der slowakischen Polizei ertappt, als sie Greuelnachrichten an das Ausland abfasste. Ich habe das Nötige veranlasst.’“ 66 Gisi Fleischmann, die sich unerschrocken fiir die Rettung der slowakischen Juden eingesetzt hatte, wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Anfang November 1944 kam es zu einem Treffen zwischen Kurt Becher und Roswell McClelland im Hotel Savoy in Ziirich. Der ebenfalls anwesende Saly Mayer zeigte ein Telegramm des amerikanischen Außenministers Cordell Hull vor. „Laut diesem Telegramm genehmigte das State Department dem Joint die Überweisung von fünf Millionen Dollar in die Schweiz. Diese Summe sollte unter der Aufsicht des War Refugee Board für Rettungszwecke verwendet werden.“ Es handelte sich dabei allerdings um einen ungedeckten Scheck, denn nichts konnte dem US-Außenministerium ferner liegen, als den Deutschen Geld oder Waren zur Verfügung zu stellen. Rudolf Kastner, der unermüdlich an der Rettung von Juden arbeitete, kam sehr spät zu der Erkenntnis: „In ihren Heimatländern waren die Juden der primitivsten Menschenrechte beraubt und zu Vogelfreien erklärt worden. Millionen von ihnen brachte man um, aber keine Stelle fand sich, die ihnen Schutz gewährt, kein Land, das sie hereingelassen hätte.“ Kastner schrieb seinen Bericht, als er bereits in Israel lebte. Daher gibt es einige retrospektive Gedanken im Text: „Im Nürnberger Prozess hat man sich zur Verurteilung der Kriegsverbrecher einiger Neuerungen auf dem Gebiet des Völkerrechts bedient. Wäre es nicht möglich gewesen, ebenso gut zu improvisieren, als es sich darum handelte, die Massenmorde an Juden, wenn auch nur teilweise, zu verhindern?“ Nachdem im August 1944 nur eine kleine Gruppe aus BergenBelsen in die Schweiz einreisen konnte, folgte im Dezember 1944 ein zweiter Transport: „Die Menschen, von denen wir uns vor fünf Monaten in Budapest verabschiedet haben, befinden sich in einem regulären D-Zug. ... Auch meine Familie ist dabei.“ Im Januar 1945 wurden Pest und das Ghetto von der Roten Armee beifreit, im Februar 1945 Buda und die dort befindlichen drei jüdischen Kinderheime. VIT An dieser Stelle wird der Kastner-Bericht zu einer Art Tagebuch. Einzelne Ereignisse werden notiert, Berichte von SSAngehörigen wiedergegeben, Gerüchte kolportiert, und Kastner