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reist unermüdlich hin und her, um einen Überblick zu behalten. So fuhr er am 10. April 1945 mit Kurt Becher zusammen von Berlin nach Bergen-Belsen. Er wurde dort Zeuge der schrecklichen Zustände dieses angeblichen „Musterlagers“ und der Verabredung, das Lager den britischen Truppen kampflos zu übergeben. Kastner besuchte auch Theresienstadt und kehrte dann zu einem Treffen am 19. April 1945 mit Saly Mayer an die Schweizer Grenze zurück. Nun wurde entschieden, dass eine Zusammenkunft mit Kurt Becher „überflüssig“ sei. VOI „Zum Abschluss soll betont werden, dass dieser Bericht keinen Anspruch auf auch nur ungefähre Vollkommenheit erhebt. Manche Zusammenhänge und Hintergründe, insbesondere in der internationalen Politik, blieben vorderhand unaufgeklärt. Sie werden es wahrscheinlich auch lange Zeit bleiben — und das aus gutem Grund. Man ist zum Beispiel gar nicht pressiert zu ver6ffentlichen, dass ein alliierter Diplomat auf die Mitteilung, man könne 100000 Juden vor der Vergasung retten, mit der Frage reagierte: ‚Aber wo sollen wir sie denn unterbringen?’“ IX „Der größte ‚Idealist’, den er, Eichmann, jemals unter den Juden getroffen hatte, sei Dr. Rudolf Kastner gewesen, mit dem er während der ungarischen Judendeportationen verhandelt hatte und übereingekommen war, die ‚illegale’ Ausreise einiger tausend Juden nach Palästina zu gestatten ... als Gegenleistung von ‚Ruhe und Ordnung’ in den Lagern, aus denen Hunderttausende nach Auschwitz transportiert wurden. Da die wenigen Tausend, die durch diesen Handel gerettet wurden, prominente Juden und Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung waren, also im Sinne Eichmanns ‚bestes biologisches Material’, hatte Dr. Kastner eben die anderen Juden seiner ‚Idee’ geopfert, wie es sich für einen Idealisten gehört.“ Yehuda Bauer kommt zu dem Ergebnis, dass die aktiven ungarischen Zionisten „nicht nach Erfolg oder Misserfolg beurteilt werden sollten, sondern nach der grundlegenden moralischen Frage: Haben sie es versucht?“ Zu Verhandlungen gehören meistens zwei Partner. Kastners Gegenüber war meist SS-Obersturmbannführer Kurt Becher, der 1961 über seine Motive vor dem Bremer Amtsgericht aussagte: „Als ich von der jüdischen Seite gebeten wurde, mich für die jüdischen Menschen einzusetzen, benutzte ich gegenüber Himmler die bereits im Gespräch befindlichen Propositionen, Lastwagen gegen die Freilassung von Menschen. Diese Proposition wurde mir als zwischen Eichmann und dem jüdischen Rettungskomitee in Verhandlung bestehend von Dr. Billitz berichtet. Ich habe auf dieser Grundlage meine Bemühungen bei Himmler begonnen und auch dann fortgesetzt, als es mir völlig klar war, dass diese Proposition nicht ernst gemeint war. Alle wirtschaftlichen Gegenleistungen und Gespräche über wirtschaftliche Gegenleistungen wurden von mir verwandt, um gegenüber Himmler die Erfüllung von Zusagen der jüdischen Seite zu dokumentieren, obwohl diese Leistungen nur in minimalem Umfang tatsächlich abgewickelt wurden.“ Kurt „Becher wurde im Mai 1945 von amerikanischen Militärbehören verhaftet. Er entging der Strafverfolgung als NSVerbrecher und wurde auf Kastners persönliche Empfehlung aus dem Gefängnis in Nürnberg entlassen. Becher leitete nach dem Krieg eine große Firma und war Leiter der Bremer Getreideund Futtermittelbörse. Er geriet in den 80er Jahren in Deutschland in die Schlagzeilen, als er einen weiteren hohen Posten in der Wirtschaft übernehmen sollte. Wegen seiner politischen Vergangenheit kam es jedoch nicht dazu.“ Richter Benjamin Halevi schrieb in seinem Urteil vom 26. Juni 1955: „Ich habe mich und K. gefragt, wie es möglich war, dass K. zur selben Zeit, als (sein Partner) Brand versuchte, alle Führer der freien Welt aufzurütteln und sie zu Taten zu zwingen, zehn Telefonate mit einem Führer in (seiner Heimatstadt) Kluj führte und ihn nicht wegen der Bestimmungsorte der Deportationszüge warnte. ... K.s Interesse, das Geheimnis zu wahren, war kein Zufall. ... K.s Verhalten war tatsächlich geplant und logisch: Um die Rettung der Prominenten, mitsamt seinen Verwandten und Freunden, zu gewährleiste, musste er schweigen.“ „Das Rudolf Kastner so verdammende erstinstanzliche Urteil wurde vom Obersten Gerichtshof des Landes vollinhaltlich aufgehoben.“ Jens Brüning, geb. 1946 in Oldenburg, Niedersachsen. Studium an der Freien Universität Berlin, Publizistik, Soziologie und Nordamerikanische Literatur und Kultur. 1974-79 Assistent am Institut für Publizistik. Freiberuflich für den Rundfunk tätig, langjähriger Berlin-Korrespondent der Funk-Korrespondenz (Köln) und Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung (Medienseite). Seit 1980 hauptberuflich freier Hörfunkautor. Herausgeber von Gabriele Tergits Publizistik und Romanen aus den 1920er Jahren, Rechte- und Nachlassverwaltung der 1982 verstorbenen Tergit. Veröffentlichte 1990 die Roman-Satire ‚Radio Bolognese“ über den Umbruch des Rundfunks vom öffentlichrechtlichen zum „dualen“ System. 1993 Mitarbeit an Dokumentarfilm über deutsche Emigranten in Portugal und einer daraus entstandenen Ausstellung des Goethe-Instituts. Anmerkungen 1 Der Kastner-Bericht — Uber Eichmanns Menschenhandel in Ungarn. Mit einem Vorwort von Professor Carlo Schmidt. Redaktion und Nachwort von Ernest Landau. München 1961 (später zitiert als „Kastner“), S. 348. 2 Ebd. S. 345, (David Ben Gurion (eigentlich David Grün, 1886 — 1973), erster Ministerpräsident und Verteidigungsminister Israels und Vorsitzender der sozialdemokratischen Regierungspartei MAPAJ (zionistische Arbeiterpartei) war 1906 aus Polen nach Palästina gekommen und wurde alsbald politisch aktiv; er engagierte sich für die Einwanderung junger Juden nach Palästina und trat 1939 der britischen Mandatsmacht über Palästina entgegen; die wollte die Einwanderung stark beschränken; Ben Gurion forderte demgegenüber eine jüdische Masseneinwanderung und rief zur Gründung eines jüdischen Staates auf; nach dem Zweiten Weltkrieg forcierte er die „illegale“ Einwanderung und die landesweite Gründung von Siedlungen). 3 Im Prozess-Bericht des US-amerikanischen Magazins „Time“, in dem Adolf Eichmann durchgehend den schönen Vornamen „Karl“ trägt, wird Tamir zitiert: „Sie fingen als ehrgeiziger Führer an und endeten als Nazi-Agent.“ (Übers. JB; Time Magazine, „On Trial“, July 11, 1955). 4 Kastner, S. 346. 5 Ebd. S. 347. 6 Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow. Mit mit einem einleitenden Essay von Hans Mommsen. Leipzig 1990, S. 122. 67