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neuen sozialistischen Regierung aus Prestigegründen wichtiger, das Museum pünktlich zum 60. Jahrestag des Beginns der Deportationen aus Budapest einzuweihen, als eine seriöse ständige Ausstellung einzurichten. Skulpturen der Erinnerung Aus dem Keller des „Terrorhauses“ kommen die Jugendlichen dennoch bedrückt heraus. Die kahlen Kellerziegel mit gekritzelten Inschriften und den vergilbten Fotos vieler hier gequälter Menschen haben sie nicht ungerührt gelassen. Sie drängen nach draußen, in die Herbstsonne, die kalt vom eisblauen Himmel strahlt. Auf der belebten breiten Prachtstraße können sie befreit aufatmen. Was sie von hier mitnehmen, ist freilich in ihren Köpfen und Herzen verborgen. Sie verlassen ein Prachtgebäude, das bis 1936 der (jüdischen) Familie Perlmutter gehörte. Einige gehen die Andrässy ut entlang — benannt nach dem ungarischen Patrioten Graf Gyula Andrässy, der ein führender Politiker in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie war — nach Norden zum Heldenplatz, andere zieht es nach Süden, Richtung Budapester Oper. Vielleicht schlendern auch einige Richtung Donau — um das Gesehene zu vergessen. Aber auch dort werden sie von der Vergangenheit eingeholt. Denn auf der heute belebten Uferpromenade hatte man vor 61 Jahren tausende Juden in die Donau getrieben und erschossen. Wo die Gräuel passierten, hat man Schuhe, große und kleine, Männer- und Frauenschuhe als „Skulpturen der Erinnerung“ befestigt. Hatte man doch bei den Erschießungen 1944 die Juden förmlich aus ihren Schuhen gekippt. Sechs Jahrzehnte später sind diese Schuhe symbolisch auf Metallpfähle geschweißt — „damit sie nicht leicht abmontiert werden können“, erzählt die Budapester Soziologin Eva Koväcs. Dennoch fehlten erst kürzlich eines Morgens mehrere Schuhe. „Unpolitischer Vandalismus‘ lautete die routinierte Antwort der Polizei. Aber als der Wasserspiegel sank, fand man die eisernen Schuhe in der Donau. Irgendwer hatte 2005 den unvergessenen Verhaßten auch noch die Schuhe nachgeworfen... Erstdruck in: morgen (St. Pölten) Nr. 6/05, S. 56-59. — Marta S. Halpert, geboren in Budapest, Sprachstudium in London und Genf, lebt als Österreich-Korrespondentin für das Münchner Wochenmagazin FOCUS in Wien. Sie war zuvor 17 Jahre lang Chefredakteurin und Herausgeberin der Wiener Monatszeitschrift „Illustrierte Neue Welt“ und berichtete gleichzeitig als Korrespondentin aus Mittel- Osteuropa für internationale Medien wie“Jerusalem Post“, „Newsweek“ und „JTA“. Autorin für zahlreiche in- und ausländische Medien, u.a. „Die Presse“, „Der Standard“, „trend“, „Neue Zürcher Zeitung“, „Partisan Review“, „Weltwoche‘“, „Vogue“. Diverse Aufsätze in Sammelbänden. Bücher: Jüdisches Leben in Österreich (in vier Sprachen übersetzt); Luxus aus Wien II; Biographie Danek Gertner (Wien 2005); Gegangen und Geblieben — Lebensläufe nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 (Wien 2006). Ioan (Janos) Gottlieb, geboren 1929, entstammte einer ungarisch-jüdischen Familie, seßhaft in Nagybänya, das durch den Friedensvertrag von Trianon zum rumänischen Baia Mare wurde. Durch den von Deutschland und Italien erzwungenen 2. Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 kam das Gebiet (immer ungenau mit „Nordsiebenbürgen“ bezeichnet) wieder zu Ungarn. Baia Mare, nunmehr wieder Nagybänya, eine Kleinstadt von etwa 20.000 Einwohnern, wurde ein Zentrum der „Pfeilkreuzler“, besaß aber auch eine starke kommunistische Untergrundorganisation. Die antijüdischen Maßnahmen wurden in den durch die zwei Wiener Schiedssprüche Ungarn zugeschlagenen Gebieten rascher und rigider durchgesetzt als in den ungarischen Kerngebieten. Anfang Mai 1944 wurden die Juden von Nagybänya in einem Sammellager, einer verlassenen Ziegelfabrik am Stadtrand, ghettoisiert und Anfang Juni nach Auschwitz deportiert. loan Gottlieb wurde von dort ins KZ Mauthausen und in dessen Nebenlager Melk an der Donau verbracht, welches u.a. auch Ray Eichenbaum in ,,Romeks Odyssee“ (Wien 1996) aus polnisch-jiidischer Sicht beschreibt. Gottlieb gibt eine gute Beschreibung der Verhältnisse in diesem Lager und berichtet, was selten ist, von den sexuellen Nötigungen durch den „Blockältesten“ Fritz Grün. Im August 1944 erfuhr er, daß Rumänien, der Staat, als dessen Bürger er geboren war und dessen Bürger er wieder werden sollte, auf die Seite der Alliierten übergegangen war. Im April 1945 wurde das Lager Melk nach Mauthausen und Ebensee evakuiert. loan Gottlieb wurde in Mauthausen befreit und in Ebensee halbwegs wieder gesundgepflegt. Über Linz, Budapest, Debrecen kehrte er im Oktober 1945 ins wieder rumänische Baia Mare zurück. Dort holte er die Matura nach, studierte Mathematik in Cluj und theoretische Physik in Iasi, wo er heute als emeritierter Universitätsprofessor lebt. Gottlieb verlor seine Eltern in der Shoah; er selbst hatte Glück, trug aber dauernde physische Schäden davon. Sein Curriculum weist eine große Zahl wissenschaftlicher Publikationen und eine umfangreiche Lehrtätigkeit aus. Zudem war er Begründer der Schule der theoretischen Physik in Iası und der rumänischen Gesellschaft für Gravitation und allgemeine Relativitätstheorie. K.K. loan Gottlieb: Euch werde ich's noch zeigen. Vom Ghetto Baia Mare durch Auschwitz, Mauthausen, Melk und zurück 19291945. Aus dem Rumänischen von Sigrun Andree. Hg. von Erhard Roy Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre 2006. 74. S. 71