OCR
Cecile Cordon Ich hatte heuer im Sommer die irrwitzige Idee, vier Wochen Sprachurlaub für Ukrainisch am Bayerischen Haus in Odessa zu machen. Warum irrwitzig? Weil Odessa Russisch spricht und Leute, die Ukrainisch sprechen nicht wirklich herzlich aufgenommen, bzw. auch zum Teil gar nicht verstanden werden. Doch ist und bleibt Ukrainisch die Amtssprache und ich habe immer wieder mit Ämtern und offiziellen Stellen in Odessa zu tun. Nach mehrmaligen Besuchen der Ukraine faßte ich dann den Entschluss, humanitäre Projekte in diesem Land umzusetzen. Durch Zufall landete ich in Odessa und begann mit dortigen Organisationen gemeinsam eine Hilfsorganisation für Straßenkinder aufzubauen. Nun wollte ich Odessa einmal für längere Zeit besuchen und auf diesem Weg die Menschen, die Kultur, die Sprache und die Politik etwas näher kennenlernen. Vier Wochen leben in Odessa war eine Herausforderung. Im August war eine Schönwetterperiode von vier Wochen mit hoher Luftfeuchtigkeit und durchschnittlich 36 Grad C, beeinflußt vom Steppenklima, viel Sand, angeblich Wüstensand, und Staub. All das kann einem trotz Meer und Wind ganz schön zusetzen. Der Autoverkehr ist vom Mai 2004, meinem ersten Besuch in Odessa, bis heute enorm angewachsen. Inzwischen ist die Stadtverwaltung bemüht, den Verkehr durch Ampeln zu regeln, was aber viele Autofahrer — vor allem Fahrer und nicht Fahrerinnen — nicht hindert in die Kreuzung einzufahren, was dem Fußgänger die Einschätzung der Situation schwer macht. Das Tempo ist rasant in jeder Beziehung. Viele Geschäfte entstehen, viele Häuser werden renoviert, vor allem in der Innenstadt. Manche wirklich geschmackvoll, manche nur äußerlich und notdürftig. Aber die Aufbruchstimmung in dieser Stadt ist sehr stark spürbar. Die Straßen der Innenstadt werden instandgesetzt, die Renovierung der Gehsteige muss aber von den Haus- oder den Geschäftseigentümern finanziert werden, was zum Ergebnis hat, dass alle zehn Meter ein anderes Pflaster entsteht und der Rest der Strecke einem Fitnessparcours gleichkommt. Und regnet es, was im ganzen August vier Mal der Fall war, dann schwimmt Odessa. Die Stadt steigt vom Hafen aus bergan und daher rinnen bei jedem Regenguss Sturzbäche in Richtung Hafen und in manches Kellerlokal. Das Kanalsystem ist überfordert, bzw. wurde einer privaten Firma übergeben, die sich daran bereichert hat, ohne dem Übel des desolaten Wasserablaufs abzuhelfen. Als Fußgänger bleibt einem nur das Inselhüpfen von Gehsteig zu Gehsteig übrig. Hände weg von Lenin Ich hatte mit dem Anhalten der ,,Marschroutkas“, den Sammeltaxis, die man am Straßenrand durch Handzeichen anhält und dann bekannt gibt, wo man aussteigen will, wozu man sich aber in der Stadt auskennen muß, meine Probleme. Als ich daher am Montag, 31. Juli 2006, zu Fuß zum ersten Mal meinen Weg ins Bayerische Haus zum Sprachkurs antrat, kam ich am Lenin-Denkmal auf dem KulykoweaPole, das ist ein großer Platz beim Bahnhof, vorbei und entzifferte: „Hände weg von Lenin“. Die Kommunisten hatten Unterschriftenlisten aufgelegt, um Lenin zu schützen. Lenin sollte demontiert werden, forderte die Historikerkommission der Stadt. Bis dato waren die Odessiten sehr stolz darauf gewesen, dass Lenin trotz aller politischen Umschwünge in Odessa stehen bleiben konnte, denn solche Dinge überstehen die Odessiten mit ihrem sprichwörtlichen Humor, sagen sie. Das mit dem Humor ist allerdings so eine Sache. Mir ist er nicht begegnet, aber darauf werde ich noch zurückkommen. Als ich am Donnerstag, dem 3. August, auf meinem Schulweg wieder an Lenin vorbeimarschierte, fehlte diesem bereits der Kopf. Mitleidige Hände hatten eine Plane über den Rumpf gezogen, und eine Umzäunung, verstärkt durch einen Gürtel aus Polizei und Militär, schützte den Ort. So schnitt man Lenin in Scheiben vom Sockel. Vom Knie abwärts wurde es allerdings Schwerstarbeit. Der Stein, den die armen Arbeiter unter sengender Sonne übers Wochenende zu Bröseln meißeln mußten, war sehr hart. Am Montag war der Platz leergefegt und kein Steinchen erinnerte mehr an Lenin. Noch standen vor allem ältere Menschen am Platz und empörten sich gegen diese Schändung ihrer Geschichte. Die kommunistische Aera war ein Teil ihres Lebens, und es ging vielen von ihnen damals besser. Am besten ging es ihnen zu Breschnews Zeiten. (So sagen sie jedenfalls). An einem der nächsten Tage stand ein kleines Bronzerelief mit dem Kopf Lenins auf dem Asphalt. Einer der Umstehenden kam auf mich zu, als er bemerkte, dass ich diesen dürftigen Ersatz des Monuments fotografierte. Wir einigten uns auf Englisch, dass Lenin ein Teil ihrer Geschichte sei. Ob er allerdings prominent gerade auf diesem stark frequentierten Platz stehen sollte oder nicht, getraute ich mich nicht zu entscheiden. Endlich hat die Ukraine wieder eine Regierung Am ersten Wochenende im August erhielt die Ukraine nun nach monatelangem Tauziehen endlich eine Regierung. Als ich mit meiner Ukrainischlehrerin, einer jungen stolzen Frau mit Wurzeln im Donezkbecken — ihre ganze Familie war im Bergbau beschäftigt — über die neue Regierung sprechen wollte, merkte ich bald, dass sie politisch nicht sonderlich interessiert war. Ich wollte aber wissen, wie sie auf den neuen Premierminister Janukowitsch reagierte. Zu meiner Überraschung war sie glücklich darüber. Warum sie über einen Mann glücklich sei, der, statt die Korruption zu bekämpfen, sich daran bereicherte und zudem als Gewalttäter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war, erlaubte ich mir zu fragen. Sie meinte, das glaube sie alles nicht. (Übrigens sind die Akten über seine Verurteilung auch verschwunden.) Außerdem käme er aus Donezk und würde doch bestimmt etwas für die Menschen dort tun. Immer mehr Schächte würden geschlossen und es gebe keine Arbeit. Auf meinen Einwand, Kohle sei auf dem Weltmarkt derzeit nicht sehr gefragt, reagierte sie nicht. Ich wendete mich wieder der ukrainischen Sprache zu, und das allein ist ein Fauxpas in einer Stadt, die strikt an ihrer russischen Sprache festhält. Die stellvertretende Direktorin der Abteilung für Auslandsbeziehungen im Odessiter Rathaus gestand mir, dass alle im Rathaus zwar Ukrainisch sprächen, aber zu Hause Russisch. Das sei die Muttersprache, und Ukrainisch, meinte sie lächelnd, die Vatersprache. Der Bürgermeister, der 2005 von der Partei „Unsere Ukraine“ eingesetzt worden war, verlor die Gunst seiner Partei. Daraufhin gründete er eine eigene Partei, die Gurvitsia, gewann die Wahlen und regiert jetzt mit sechs anderen Parteien zusammen im Rathaus. Soziale Probleme in Odessa Das Leben der „kleinen“ Leute ist hart, besonders das der Alten und ganz besonders der alten Frauen, die am Gehsteig hocken mit dem Angebot von gerösteten Kürbiskernen und Zigaretten, ihre kärgliche Pension aufzubessern. Schwer ist das Leben für Behinderte und Kranke. Die Einkommen des Mittelstandes sind sehr niedrig. Die Leiterin einer Abteilung im Rathaus in Odessa bekommt 200 Dollar. 100 79