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Vor eineinhalb Jahren, am 4. Juni 2005, trafen sich einige Personen, Angehörige einer „Gruppe Freundschaft“, in einem französischen Restaurant in New Yorks Manhatten voller Erwartung und Erregung. Nach dem Lunch gingen sie in die Wohnung eines früheren Senators des Staates New York, Franz Leichter, für ihr eigentliches Zusammentreffen. Dieses setzte sich dann fort beim Dinner in einem italienischen Restaurant. Fast alle waren gekommen. Ein volles Tagesprogramm für die noch Lebenden der einstigen „Gruppe Freundschaft‘. Wer und was war diese Gruppe? Es war im Dezember 1938 in Paris. In Paris hatte die Auslandsvertretung der österreichischen Sozialdemokraten ihr Büro, und in Paris wohnten viele Sozialisten, die aus Österreich vertrieben worden waren. Marianne Pollak, frühere sozialdemokratische Journalistin, und ihr Mann Oscar, früherer Redakteur der Arbeiter-Zeitung, beschlossen zur Weihnachtszeit in ihrer Wohnung ein festliches Zusammenkommen zu organisieren für Kinder dieser österreichischen Exilsozialisten. Das Fest war ein großer Erfolg. Einjeder ist voll Freude weggegangen. Aber vorher wurde einstimmig beschlossen, daß die Teilnehmer zusammen bleiben und sich weiter treffen sollten. Und so wurde eine Gruppe gebildet, die sich regelmäßig im Büro der Exilpartei traf und sich Gruppe Freundschaft nannte. Vorträge, Diskussionen, Spiele, Ausflüge und Gesang, viel Gesang. Wir lernten viel über den Sozialismus, wurden enge Freunde und sahen den Zusammenkünften sehr gerne entgegen. Nach einer gewissen Zeit wären wir Mitglieder der „Roten Falken“ geworden, so jedenfalls wäre es in einem freien Österreich gewesen. Von unseren Falkenführerinnen, Erna Sailer und Marianne Pollak, wurde jedem von uns ein roter Wimpel überreicht. Dies war ein sehr feierlicher und beeindruckender Moment für uns. Manchmal machten wir Ausflüge mit den französischen Roten Falken — „Faucons Rouges“ — deren Vorsitzender Dyno Loewenstein war, Sohn eines prominenten deutschen Sozialdemokraten. Das Beeindruckendste, was uns dort geboten wurde, war ein mehrere Wochen dauernder Sommeraufenthalt in einer Jugendherberge in Plaissis Robinson, in der Nähe von Paris. Das tägliche Zusammensein dort hat uns noch enger verbunden. An einem Sonntag, es war Die „Robinsoner“ 1938 in Frankreich. Links beim Treffen 2005 in New York. 82 Elterntag, gaben wir einige Vorfiihrungen zum besten. Im ersten Teil dramatische Szenen und Sprechchöre politischen Inhalts und im zweiten Teil humoristische Darbietungen, was den Sozialistenführer Julius Deutsch in einer darauf folgenden kleinen Rede zu der Erklärung veranlaßte: „Das ist nicht Humor, das ist Hamur.“ Darin steckte nicht nur Wienerisches, sondern auch ein Wortspiel mit den französischen humeur und amour. Das wurden dann geflügelte Worte für uns, über die wir auch später immer wieder lachten. Wir dachten, dass wir immer zusammen bleiben würden, auch dann, wenn wir zurück nach Wien gehen sollten — so wie wir gesungen haben: Wir kommen wieder, die Flammenfahnen ziehn siegreich im Sturm durchs eroberte Wien, kurz nur bemessen war unserm Feind die Zeit, strahlend ersteht die Gerechtigkeit! Julius Deutsch hatte uns sogar berichtet, dass unser Aufenthalt in Plaissis Robinson für zwei weitere Wochen bewilligt worden sei. Aber es ist nicht ganz so gekommen. Als Deutschland am 3. September 1938 der Krieg erklärt wurde, waren wir noch in der Herberge Robinson. Unsere Väter wurden, wie alle österreichischen und deutschen Männer, ungeachtet ihrer Gesinnung als „feindliche Ausländer“ interniert. Darum reiste unsere Jugendgruppe nicht zurück nach Paris. Statt dessen bezogen wir Quartier im nahe gelegenen Kinderheim einer jüdisch-französischen Hilfsorganisation, welches geführt wurde von dem früheren leitenden Parteimitglied und Pädagogen Ernst Papanek, dem Vater eines Gruppenmitgliedes. In dieser neuen Gemeinschaft mit den anderen Kindern des Heimes versuchten wir so gut es eben ging den Zusammenhalt unserer Jugendgruppe zu bewahren. Zwar wohnten die Mädchen in einem anderen Gebäude und die Burschen fanden nicht alle im selben Schlafsaal Platz, doch wir kamen so oft wie möglich zusammen, führten Gespräche und sangen Lieder. Bald nannte man uns die „Robinsoner“ (nach der Herberge Robinson), im Unterschied zu der Gruppe der „Kubaner“, die von der Saint Louis, dem bekannten Ungliicksschiff kamen, das, in Kuba trotz vorheriger Vereinbarung abgewiesen, nach einer Irrfahrt wieder nach Europa zurückkehren mußte. Als die deutschen Truppen über Holland und Belgien in Nordfrankreich eindrangen, ging ich, wie die meisten unserer Gruppe, zurück nach Paris, von wo aus wir sofort nach Montauban in Südfrankreich flüchteten — nur ein paar Tage vor dem Fall von Paris. Auch hier traf sich unsere Gruppe regelmäßig zu Diskussion und Gesang. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass wir nicht regelmäßig zusammen sein könnten. Den meisten von uns gelang es, mit ihren Eltern eine Einreisegenehmigung für die USA zu bekommen: Peter Ackermann, Otto und Steffi Bauer, Peter Berczeller, Rosi Foscht, Hanna Kaiser (später Papanek), Gerhard Kohn, Heinz (später Henry) Leichter (mit seinem kleineren Bruder Franz), Gustav Papanek (mit seinem kleineren Bruder Schorschi), Josef Polzer, der (damals) kleine Johnny Sailer, Herbert Schiller, Hilde Schlesinger, Hannspeter Semrad und ich, Kurt Sonnenfeld. Helmuth und Bruno Schwebel konnten mit ihren Eltern, in Mexiko einreisen. Lene Pariser überlebte versteckt in Frankreich. Dele Kurzweil, Dorli Loebl und Ernst Weisselberg, die nirgendwo eine Einreisebewilligung bekommen konnten, wurden zusammen mit ihren Eltern von Südfrankreich in Vernichtungslager geschickt. In New York bildeten einige von uns wieder eine Gruppe. Jagna Braunthal, Lore Reich und anfangs Paul Zilsel, deren Namen durch ihre Väter in der Partei bekannt waren, schlossen sich uns an. Andere verließen unsere Gruppe, um bei der Armee zu dienen oder an auswärtigen Universitäten zu studieren. Doch die Gruppe Freundschaft hielt noch etliche Jahre zusammen, selbst nach der Auflösung trafen sich einige noch privat. Dann sind mehrere gestorben. Die noch Lebenden fragten sich: Warum nicht wieder einmal zusammenkommen? Na ja, dann ,,go ahead“ und organisiere es. Ich habe gern ja gesagt... Und so ist es dazu gekommen. Bei unserer Zusammenkunft gab es große Hellos, und wir sprachen über manch gemeinsames Erlebnis, aber die meiste Zeit verbrachten wir damit, uns gegenseitig über unsere persönlichen Entwicklungen zu berichten. Es wurde auch darüber gesprochen wie schwer die Trennung von der Gruppe anfangs war. Jeder mußte für sich selbst lernen, ohne die Gruppe auszukommen, ein Leben ohne dieses Gefüge aufzubauen. Obwohl ich Kopien von unseren vielen Kampf- und Wanderliedern vorbereitet und verteilt habe, blieb das gemeinsame Singen “ bemerkenswerterweise deshalb aus, weil das Interesse an den Erzählungen so groß war. AbschlieBend waren wir uns einig, unsere Kontakte aufrecht zu erhalten, und daß bald eine weitere Reunion stattfinden sollte. Und dann wollen wir besprechen wie die Gruppe und die alte politische Ideologie uns weiter beeinflusst. Und dann werden wir natürlich endlich wieder u singen. Kurt Sonnenfeld