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Gerhard Hoffmann Vor mir liegt die Zeitschrift „Zwischenwelt“, und ich habe den Artikel von Karl Pfeifer mit dem Titel „Sozialismus im Kibbuz und Antisemitismus im Antizionismus“ (in Nr. 2/2003, S. 11-15) aufgeschlagen. Wie Herr Pfeifer gehe auch ich von meinem persönlichen Werdegang aus, wenn ich über die Beziehung von Menschen jüdischer Herkunft zu ihrer nichtjüdischen Umwelt rede. Zu allererst steht die Frage im Raum: WER IST JUDE? Die jüdische Tradition besagt, daß jeder, der eine jüdische Mutter hat, Jude ist. Die Nürnberger Nazigesetze sahen in jedem, der vier jüdische Großeltern hatte, einen VOLLJUDEN. Bruno Kreisky meinte, Jude sei, wer sich als Jude fühle. Während die beiden ersteren dem Menschen von Geburt an den unauslöschlichen Stempel aufdrücken, läßt Kreisky jedem die freie Wahl. Herr Hlavata, in Wien-Ottakring aufgewachsen, mag sich als Tscheche fühlen oder als Österrreicher, die Entscheidung bleibt ihm überlassen. Herr Kohn kann sich als Österreicher, als Jude, oder als Österreicher jüdischen Glaubens bezeichnen; die Entscheidung ist ihm überlassen. Im Laufe der Jahrtausende haben sich die Menschenrassen vielfach gemischt, gekreuzt, angepaßt, sind gewaltsam in fremde Identitäten gepreßt und aus solchen ausgestoßen worden. Niemand kann heute auf Rassereinheit pochen. Meine Eltern, beide aus jüdischen Familien ohne Beziehung zu jüdischer Tradition, haben sich etliche Jahre vor meiner Geburt zum Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft - der sie sowieso nur formell angehört hatten — entschlossen und mich liegend taufen lassen. Meine Mutter hat mir und meinem Bruder von klein auf christliche Lieder vorgesungen und evangelische Gebete gelehrt, wir nahmen am evangelischen Religionsunterricht teil, ohne jenen typischen Proselyteneifer, der bei Religionsübertritten so oft vorkommt. Ich hatte auch das Glück, weder in meiner Kindheit noch später auf Ablehnung wegen der jüdischen Herkunft der Eltern zu stoßen; während der Nazizeit war ich in Spanien und Frankreich, nie wäre es mir in den Sinn gekommen, daß ich den Faschismus nur wegen der Judenverfolgungen bekämpfen müsse. Daß meine eigene Familie, Vater, Mutter und Bruder, Opfer der nazistischen Verfolgung wurden, hat an dieser Einstellung nichts geändert. Es wäre ja auch eine makabre Bestätigung der nationalsozialistischen Rassentheorie, wenn man die Defintion der Rassezugehörigkeit nach den Nürnberger Gesetzen akzeptiert. Die Antithese zur nazistischen Rassenlehre kann nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht nur sein, daß es jedem überlassen 84 bleiben muß, sich zu jener Gemeinschaft von Menschen zu bekennen, der er sich selbst zugehörig fühlt. Aber auch: Daß niemand aus der Zugehörigkeit zu einer rassischen, religiösen, politischen oder gesellschaftlichen Gruppe irgendwelche Privilegien ableiten darf. Jahrhunderte alte traditionelle Gruppenbildungen, hindern an vielen Orten des Erdballs Menschen an dieser freien Entscheidung: Dazu gehören zum Beispiel die Frauen in vielen Ländern mit patriarchalischen Traditionen, dazu gehören die religiösen und politischen Ghettosituationen in Irland, Indien, in Lateinamerika, in RuBland. Juden werden heute kaum mehr verfolgt, Judenfeindlickeit hat sich ins Inoffizielle zurückgezogen. Wohl aber werden Zigeuner, Schwarze, Katholiken in protestantischen und Protestanten in katholischen Ländern, Sunniten im Iran und Schiiten in anderen arabischen Ländern ausgegrenzt und verfolgt. Es sind zwei Seiten einer Medaille: Wo es Diskriminierung gibt, gibt es Privilegien für die jeweils herrschende Gruppe. Dafür sind aber nicht die Angehörigen solcher Gruppen die Verursacher, sondern jene Machtklüngel, die sich solcher vorgegebener Überlegenheiten bedienen, um sich auf ihr Volk zu stützen und ihre Macht behaupten. zu können. Es ist heute unbestritten, daß dies im Deutschland unter Hitler der Fall war: Indem die Machthaber dem deutschen Menschen eine physische, moralische und geistige Überlegenheit vorgaukelten, haben sie das deutsche Volk für ihre Ziele gewonnen und den Weg frei gemacht für Auschwitz, Krieg und Genozid. Der Grundsatz, daß niemad aus seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen oder rassichen Gruppe irgendwelche Privilegien ableiten darf, muß allgemein gelten. Er muß auch in Israel gelten, und das hat mit dem Trauma des Holocaust nichts zu tun. Weil meine Eltern in Auschwitz oder Mauthausen umgebracht wurden, darf keine palästinensische Familie ihre Heimat verlieren. Weil mein Vater 1938 von Nachbarn beschimpft wurde, darf kein Tschetschene in Rußland, kein Russe in Lettland und kein Zigeuner in Rumänien straflos beleidigt werden. Das Unglück der Israelis ist nicht, daß sie von arabischen Ländern umgeben sind, sondern, daß ihr Land in die Großmachtpläne der USStrategen einbezogen wurde und dort eine Schlüsselstellung einnimmt. Deshalb nimmt die Spannung in jenem Winkel der Welt immer dann zu, wenn die US-Strategen neue Pläne in Nahen Osten aushecken; und es gibt Fortschritte im Friedensprozeß, wenn in den USA ein weniger aggressives Regime ans Ruder kommt. Im Schatten der ergiebigsten Ölfelder des Globus geraten Israel und seine Nachbarn unweigerlich in das Gestrüpp der Machtinteressen. Das Streben nach absoluter Kontrolle über diese Länder ist offenkundig die Voraussetzung für jedwede Operation zwischen Kabul und Bombay, Belgrad und Jeddah. Es ist aber das Lebensinteresse der Menschen, die diese Länder bewohnen, daß sie sich gemeinsam gegen die räuberischen Pläne der Olgangster und Dollar-Raubritter zur Wehr setzen, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Es geht um das friedliche Zusammenleben von Albanern, Kroaten und Serben, Israelis und Palästinensern, Russen und Tschetschenen, Esten und Russen, Österreichern und Slowenen, Griechen und Türken — und aller Völker und Gruppen, die gegeneinander ausgespielt werden. Heute klingt es wie unerfüllbarer Traum, und ist doch der einzige Ausweg aus Krieg und Elend: Laßt uns gemeinsam diesen Traum verwirklichen! Gerhard Hoffmann, geb. 1917 in Wien, schloß sich als Student dem Kommunistischen Jugendverband an, im Widerstand gegen die Schuschnigg Diktatur. 1937 verhaftet und zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilt, im Februar 1938 amnestiert, ging er über die Tschechoslowakei nach Spanien zur X1. Internationalen Brigade. Nach der Niederlage der Spanischen Republik fliichtete er nach Frankreich und war in Saint-Cyprien, Gurs und Argeles interniert. 1943 schloß er sich der Resistance an. Nach der Befreiung war er zunächst in Belgien, kehrte dann nach Wien zurück. Übersetzer, Mitarbeiter bei WienFilm, Privatangestellter, Unternehmer. Freiwilliger Helfer in Nicaragua. Mitarbeiter der spanischen Zeitschriften „Historia 16“ und „Historia y Vida“. Vater von zwei Töchtern. - Beim „Zweiten Gespräch über die Rückkehr“ am 19. November 2006 sprach er über sein Leben in Wien nach 1945. Motesiczky-Ausstellung Aus Anlaß des 100. Geburtstages von MarieLouise von Motesiczky zeigen Museen in Liverpool, Frankfurt am Main, Wien und Southampton eine 89 Werke umfassende Würdigung ihres Werkes. Ines Schlenker, die mit der Aufarbeitung ihres Nachlasses betraut wurde, und Jill Lloyd verfassten für den wunderschön gestalteten Begleitband biographische Studien über Motesiczkys Jugend und aristokratische jüdische Familie in Wien und über ihre Zeit im Exil in Großbritannien, die von ihrer komplexen Beziehung zu Elias Canetti geprägt war. In Wien wird die Ausstellung vom 8. März bis zum 20. Mai 2007 im Wien Museum zu sehen sein. — E.A. Marie-Louise von Motesiczky 1906 - 1996. The Painter Die Malerin. Hg. von Jeremy Adler und Birgit Sander. Miinchen u.a.: Prestel 2006.264 S. Euro 49,95