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zeugt - um ein Beispiel zu nennen — auch sein Ende 1945 publiziertes Buch „Ist Gottesraum in Gottes Volk?“ Dabei hielt sich Zipkes weder an ein klares ideologisches Programm noch an ein starres Gesetz. Die Flexibilität des Denkens ist ihm ein selbstauferlegtes Anliegen, die Freiheit der Gedanken unabdingbares Postulat. Seine zahlreichen persönlichen Kontakte, Bekanntschaften und Freundschaften, von denen der Autor in lebendiger Erinnerung zu erzählen weiss, prägen und schärfen sein Denken. Der Blick in die Vergangenheit darf aber — so Zipkes — nicht das letzte Wort haben. Die Gegenwart verlangt ebenfalls eine Bewältigung. Rudolf Zipkes reichhaltige Erinnerungen geben durch sein vielfältiges gesellschaftliches Engagement zudem einen Einblick in die Geschichte der Jüdinnen und Juden in der Schweiz des 20. Jahrhunderts geben. Zeichnungen aus der Feder des Autors zieren dieses wertvolle Buch. Zsolt Keller Rudolf G Zipkes: Gelebtes Leben. Jude sein in einer weltoffenen Zeit. Zürich: Orell Füssli 2005. 471 S. 1933-1939 Ständestaat 1935: Bundesbahnlotterie-Ziehung in einem niederösterreichischen Bahnhof. Neugierige und kommandierte Festgäste warten auf einen Zug. Ein Schnellzug passiert die Station und plötzlich steht die Festgesellschaft in einer Wolke im Fahrtwind zerstiebender, aus Papier gestanzter Drei-Pfeil-Zeichen. Sofort wurden alle verfügbaren Eisenbahner zum Entfernen des „revolutionären Schutts“ aufgeboten. Einer von vielen Vorfällen dieser Art, mit denen sich in Wien und den Bundesländern das staatspolizeiliche Bureau der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit beschäftigte. Immer handelte es sich um Streu- und Klebezettel, das am häufigsten eingesetzte Massenmedium der politischen Parteien zur Zeit ihrer Illegalität unter der klerikalfaschistischen Ständestaatregierung. Werden legale Flug-, Streu- und Klebezettel vorschriftsmäßig mit einem gültigen Impressum versehen, so fehlt dieses bei illegalen Drucken oder beruht auf falschen Angaben. Von den Behörden konnte das Material zwar der Ideologie einer bestimmten Partei, jedoch nicht einer bestimmten Produzentengruppierung zugeordnet werden. Zur Bestimmung der Ideologie und Partei wurden mehrere Faktoren von den Verfolgern herangezogen. Man achtete auf die angesprochene Zielgruppe, die aufscheinende Darstellung und Wertung politischer Sachverhalte, die politischen Forderungen und Handlungsaufrufe. Und man zog weiters Sprache, Papier, Schrift und Zeichen zu bestimmenden Vergleichen heran. Die oft in leidenschaftlich heroisierender Sprache verfassten Botschaften lasen sich beschwörend, drohend oder siegessicher. Der Zeitgeschichtler, Rundfunk- und Fernsehjournalist Georg Tidl sammelte viele dieser durch die Zeitläufe fast gänzlich verschwundenen Dokumente. Er schreibt zur Sprache auf den Flugund Klebezetteln in den Jahren vor dem Nationalsozialismus: „Je mehr sich Österreich der Katastrophe nähert, umso aggressiver wird sie.“ Streuzettel mussten vor allem klein sein, um sie leicht verstecken zu können. Ihr Besitz war gleich dem von anderem illegalen Agitationsmaterial wie Zeitschriften, Broschüren oder 88 Flugblättern verboten. Das Aufheben von der Straße bedeutete In-Besitz-Nehmen und war strafbar. „Illegales Material konnte daher nur illegal weitergegeben werden.“ Zweck des Streuzettels war nicht die ausführliche Information, sondern das Erregen von Aufmerksamkeit, gewissermaßen das Zeichen: Uns, die Nicht-Einverstandenen, gibt es. Zur Blütezeit der Streuzettel entwickelte sich eine parallele Aktionsform: die Blitzkundgebung, bei der sich plötzlich inmitten einer größeren Menschenmenge Demonstranten versammelten, Parolen riefen (z.B. für die Befreiung von Gefangenen), ein Lied anstimmten (z.B. die Internationale), Streuzettel warfen — und vor Eintreffen der Sicherheitsorgane verdufteten. Streuzettel sollten, anders als Flugblätter, nur gesehen werden. Dementsprechend transportierten sie meistens Schlagzeilen, kurze Forderungen, Aufforderungen zum politischen Handeln. Sie könnten mit der Überschrift des Flugblattes verglichen werden, auf die der zur Überschrift gehörende Text dann folgt. Den Rezensenten des Buches erinnert dies an heute aktuelle Graffiti der Anti-SchwarzBlau-Bewegung, die lediglich die Adresse einer Website angeben. Den ausführlichen Teil finden die LeserInnen dann im Netz. Nicht anders verhält es sich mit den Klebezetteln. Heute sagt man Sticker. Klebezettel wurden in wesentlich geringerer Zahl produziert als Streuzettel. Georg Tidl begründet dies so: „Stellte schon die Beschaffung von normalem Druckpapier die illegalen Aktivisten immer wieder vor große Probleme, wie viel schwieriger war es, gummiertes Papier heimlich aufzutreiben.“ Wie die heutigen Sticker wurden sie auf möglichst glattem Untergrund angebracht, auf Dachrinnen, Reklameschildern, Lichtmasten, Mauern, Mistkübeln und Toren. Die Aufdrucke von Streu- und Flugzetteln unterschieden sich kaum. Beide Medien mussten billig, massenhaft und einfach herstellbar und ihre Aussagen noch aus größerer Entfernung rasch erkennbar sein. Ihre Anzahl, Verbreitung und Herstellungsart lässt uns heute nachvollziehen, welche Gesinnungsgemeinschaften die sichersten Verstecke hatten und über die technisch beste Ausrüstung verfügten. Der Ständestaat verfolgte Hersteller und Verteiler illegalen Propagandamaterials unerbittlich. Nicht selten wurden die AktivistInnen zu einem Jahr schwerem Kerker verurteilt und nach Verbüßung der Strafe auch noch ins Anhaltelager Wöllersdorf eingewiesen. Die illegalen Nazis flogen seltener auf, obwohl sie stets mehr Material besaßen und die Verstecke ihrer teils hochmodernen Druckereien geradezu nach dem Motto „Frechheit siegt“ anlegten. Die Annahme, diese seien von Sicherheitsorganen bei Hausdurchsuchungen mit Augenzwinkern übersehen worden, drängt sich auf. Revolutionäre Sozialisten und Kommunisten hingegen entbehrten zunehmend der wichtigsten Herstellungsmaterialien und beschrieben die Zettel sogar einzeln mit der Hand. Georg Tidl stellt in seinem Buch nicht nur die Protest- und Agitationsform der Streu- und Klebezettel ausführlich dar, sondern geht gesondert auf inhaltliche Charakteristika der unterschiedlichen Urheber-Gruppen ein. Das unterlegt er mit Zitaten aus Polizei- und Gerichtsprotokollen und insbesondere mit sehr sprechendem Bildmaterial. Nicht zuletzt zeichnet er anhand der illegalen Streu- und Klebezettel die österreichische Innenpolitik der sechs Jahre vor der Nazi-Machtübernahme nach. Auf diese Weise gelingt ihm ein ausgezeichneter Beitrag zum Verständnis der StändestaatGesellschaft und zu einer Geschichtsschreibung von unten. Thomas Northoff Georg Tidl: Streuzettel. Illegale Propaganda in Österreich 1933-1939. Wien: Löcker 2005. 195 S. Euro 17,Zeitzeugin Sidi Gross Czernowitz, das bis 1918 zu Osterreich-Ungarn gehörte, war eine Stadt der vielen Talente. War es die ethnische und kulturelle Vielfalt, die so viele Talente hervorbrachte, oder die besondere geographische Lage? Czernowitz grenzte an Galizien, die Ukraine, an Ungarn, alle diese Einflüsse bereicherten die in Czernowitz lebenden Menschen, die dort ansässigen Juden, die zeitweilig die Hälfte der Bevölkerung ausmachten, bis die politischen Veränderungen die Lebenssituation der Juden dramatisch verschlechterten. Diese historischen Ereignisse finden ihren Ausdruck in den autobiographischen Skizzen der jetzt in Israel lebenden Sidi Gross „Zeitzeugin sein“. Sidi Gross erzählt von ihrer glücklichen Kindheit in Czernowitz, wo ihr Vater Gerichtsbeamter war. Nach dem 22. Juni 1941 begann das rumänische Militär — Rumänien war mit Nazi-Deutschland verbündet — den Krieg mit der Sowjetunion. Tausende von Juden wurden ermordet, Plünderungen und Geiselnahmen, Enteignungen von Wohnungen waren an der Tagesordnung. Die Juden wurden in einem