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Ghetto interniert, das nur ein Fünftel der Internierten fassen konnte. Sidi Gross, ihr Mann, ihre Schwester und deren Mann, ihre Eltern und Schwiegereltern sollten nach Transnistrien deportiert werden, doch gelang es ihnen, im letzten Moment aus dem Viehwaggon zu entkommen und sich zu verstecken. Ihr Überleben verdankten sie Sidi, die Goldschmiedin war und in einem verstaatlichten Betrieb Arbeit fand. Nach der Übersiedlung nach Bukarest 1946 geschah ein Wunder. Sidi Gross’ Onkel Dr. Leo Stern, Historiker und sowjetischer Kulturoffizier in Wien, erschien plötzlich bei ihnen und organisierte Pässe für die Ausreise, was damals fast unmöglich schien. Nach einem Jahr in Wien kamen sie 1950 in Israel an. Sidi Gross’ Sohn wurde zwei Monate später in Israel geboren. Sidi Gross hat trotz ihren schrecklichen Erfahrungen — auch die erste Zeit im neu errichteten Staat Israel war schwierig — eine positive Einstellung zum Leben. Sie wohnt heute im besten Zentrum Tel-Avivs. Hanna Blitzer Sidi Gross: Zeitzeugin sein. Geschichten aus Czernowitz und Israel. Hg. von Erhard Roy Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre 2006. 108 S. Euro 14,80 Welch ein Buch! Eine kostbare, sprudelnde, lebendige, leuchtende Quelle von Erinnerung, Glück, Hoffnung, Trost, Weisheit, Lebenskunst. Welch ein Schicksal! Und alles ohne Hass erzählt! Das Erstaunliche an Margits Büchern ist für mich tatsächlich, dass sie aus einem unverbrüchlichen Optimismus und Vertrauen heraus eine Lebensgeschichte erzählen, die einen Menschen auch ins Verstummen oder in die Verbitterung hätte führen können. Ich habe Margit bei einer unvergesslichen Gedenkfeier zum 9. November hier in Leverkusen kennengelernt, als einige meiner Schülerinnen zum Gedenken an Selma Meerbaum-Eisinger ausgewählte Gedichte von ihr in einer evangelischen Kirche vortrugen. Margit war als ehemalige Schulfreundin Selmas eingeladen worden und las mit ihrer jungen, melodiösen Stimme eigene Erinnerungen an die junge Dichterin vor. Vom ersten Moment an haben mich ihre sprühende Lebensfreude und ihre Begeisterungsfähigkeit beeindruckt, mit der sie sich gleich in mehrere Begegnungen mit Schulklassen stürzte. Die Schüler waren restlos begeistert- in ein Büchlein, das Margit immer bei sich trägt, in dem sie buchstäblich Perlen sammelt, schrieb einer der jungen Menschen: „Es ist ein Funken auf uns übergesprungen.“ Seitdem sind wir in Verbindung — welch ein Glück für mich, nun den Besuch in Leverkusen in dem Text „Die Perlenschnur“ wiederzufinden - in diese aus Dankbarkeit und verbindender Kraft geknüpfte Kette ist er mit aufgereiht. Immer wieder wird das Unverlorene beschworen — auch in vielen Fotos, die eine junge Frau zeigen, lebenslustig, voller Freude —, unglaublich, in welchen Situationen sie aufgenommen wurden, in bitterster Deportation. Besonders mag ich ein Foto, das zwei anmutige Mädchen in wehenden Kleidern im Boot auf dem schwarzen Fluss Wasjugan in Sibirien zeigen, den Margit immer wieder mit all seinen Schrecken beschrieben hat. Sie hal offenbar die Zaubergabe, Schweres in Leichtes zu verwandeln. Margit fabuliert, beschwört mit einer überwältigenden Farbigkeit das Vergangene, mit märchenhafter Schönheit (auch Sibirien!), mit großer Wärme, mit ganz viel Herz (das ich auch in den anrührenden Tiergeschichten finde). Tief ergreifend ist die Geschichte über die zärtliche Liebe des Vaters zu einem zugelaufenen Hund, der ihn in Kriegsschrecken treu begleitet hat und der aus purer Bosheit von ihm gerissen wird. Viele Erinnerungen sind sehr schmerzlich, lassen in menschliche Abgründe blicken, wie die über den Anlass der Verbannung von Margits Familie nach Sibirien. Schlimmste Entbehrungen und Verluste zerstören nicht den köstlichen Humor, mit dem vieles erzählt wird. Ich verschenke dieses Buch begeistert und fleißig — an ganz alte Menschen wie meine Schwiegermutter, an junge wie meine Tochter. Mühelos verbindet Margits Persönlichkeit, ihre Vitalität Alt und Jung. Meine Tochter meinte, ihr imponiere besonders, dass nirgends in diesem Buch Gram, Hass, Anklage zu finden seien, dass Margits Dankbarkeit für die kleinsten Freuden so unerschöpflich und lebendig sei (z.B. für die Selbstverständlichkeit, sich bequem aus dem Kühlschrank bedienen zu können). Dass Margit nie klagt. Wirklich nie. Mit ihren Geschichten öffnet Margit immer neue Fenster („Am offenen Fenster“ heißt eine Episode), um zurückzuschauen; und die geliebte Heimat Bukowina, die glückliche Kindheit bilden den goldenen Märchengrund, der alles zum Leuchten bringt! Elisabeth Rosenfelder Margit Bartfeld-Feller: Unverloren. Weitere Geschichten aus Czernowitz und aus der sibirischen Verbannung. Konstanz: Hartung-Gorre 2005. 102 S. Euro 14,80 Sigmund Freud und die Frauen seiner Familie Anlässlich des 150. Geburtstags von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, gab es zahlreiche Neuerscheinungen, die auf ihn und seine Familie eingehen, viele davon aus der Feder weiblicher Autoren. Neben Familienbiografien, Analysen seiner Beziehung zu Frauen, Fotobänden, Briefwechseln, kulturhistorisch-biografischen Studien wurde von weiblichen Familienmitgliedern Verfaßtes erstmals oder neu aufgelegt — dazu ergänzend lohnt ein Blick auf Buchveröffentlichungen, die schon einige Jahre zurückliegen. Auf Beiträge wie zu Freuds Weiblichkeits-Theorie wird an dieser Stelle nicht eingegangen und an seine im Wissenschaftsbereich bekannten jüngsten Tochter Anna wird hinweisend gedacht. An der Person Sigmund Freuds, seinen Ansichten scheiden sich auch innerhalb der Familie die Geister. Beispielsweise verehrt er seine Mutter Amalia, aus Ostgalizien stammend und von allen wegen ihrer Schönheit gerühmt, zeitlebens, ist von ihrer „Vitalität und Ungeduld“ wie von ihrem „Lebenshunger“ und ihrer „Scharfsinnigkeit“ beeindruckt und legt bei ihr eine sonst für ihn untypische Scheu an den Tag. Seine Enkelkinder hingegen zeichnen ein weniger schmeichelhaftes Bild von ihr: zu häufigen Gefühlsausbrüchen neigend, launisch, schrill, herrschsüchtig, tyrannisch und die Söhne bevorzugend. Ist das Urteil der Familienmitglieder über seine Mutter eher gegensätzlicher Natur, so stimmen die Beschreibungen über seine Frau Martha, geborene Bernays, weitgehend überein: streng, aber fair. In Martha, aus einer angesehenen Hamburger Rabbiner- und Gelehrtenfamilie kommend und jüdisch-orthodox aufgewachsen, findet er „seinen liebsten Besitz“, eine treue, tatkräftige, auch selbstbewusste und hübsche Frau: „Sie erdet das Leben ihres intellektuellen Mannes, ... ist stets in der Lage, ihm ein Gefühl des Gesichert- und Geborgenseins zu vermitteln“ — aber die Durchsetzungsfähigkeit seiner Mutter sollte sie nie erreichen. Ein gelungenes positives Denkmal setzt ihm seine 1888 in Wien geborene Nichte Elisabeth (Lilly) Freud, spätere Freud-Marle, die Tochter seiner Schwester Maria. Die in Berlin aufgewachsene Lilly gibt 1911 ihr Debut als Schauspielerin, heiratet 1917 den Schauspieler Arnold Marle, 1919 Geburt von Sohn Omri. Zwei Jahre später erfährt sie nach ihrem ersten großen Bühnenerfolg einen schweren Schicksalsschlag, als ihr Sohn Benjamin tot zur Welt kommt. Umjubelte Auftritte feiert sie als Rezitatorin u.a. mit Rabindranath Tagore, dessen Dichtung sie einem europäischen Publikum nahezubringen versucht. Nach dem tragischen Freitod ihrer Schwester Tom 1930 nimmt Lilly ihre Nichte Angela als Adoptivkind an. 1933 verlässt die Familie deutschen Boden und emigriert nach Prag, während ihre Mutter nach Wien zu ihren drei Schwestern zurückkehrt. Sie bleiben nach dem „Anschluss“ Österreichs, 89