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Begrüßungsrede der Präsidentin des österreichischen Nationalrates Mag.“ Barbara Prammer anlässlich der Buchpräsentation „In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Exillyrik“ am 18. Jänner 2008 im Plenarsaal des Nationalrats vor über 300 Zuhörerinnen und Zuhörern. Meine Damen und Herren! „Wir ziehen mit den dunklen Flüssen“ — so beginnt eines der bekanntesten Gedichte von Rose Ausländer. Seine erste Strophe lautet: Wir ziehen mit den dunklen Flüssen Hinauf, hinab den rauen Weg. Jetzt heißt die Heimat: wandern müssen. Die Schatten fallen lang und schräg. „Jetzt heißt die Heimat: wandern müssen.“ Das ist das Schicksal der Emigrantin, des Emigranten. Es ist ein rauer Weg ins Exil. Ein Weg, den viele - allzu viele - Menschen beschreiten mussten und beschreiten müssen! Flucht vor Gewalt und Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen sind ebenso alte wie aktuelle Erscheinungen. Exil als bittere Lebensrealität von Menschen, die ihre Heimat eben aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verlassen mussten, finden wir bei Ovid vor 2000 Jahren ebenso ergreifend geschildert, wie in jenen Werken der österreichischen Exilliteratur, die den Inhalt des heute zu präsentierenden Buches bilden. Was wir in vielen dieser Gedichte konzentriert vorfinden, ist der Verlust der Heimat. Dieser Verlust wiegt schwer, für viele zu schwer: Die exilerfahrene österreichische Autorin Hilde Spiel hat in einem Vortrag über die Psychologie des Exils an Sokrates erinnert. Er hatte den Schierlingsbecher dem Exil vorgezogen, weil ihm ein Leben außerhalb Athens nicht lebenswert erschien. Und wir müssen in diesem Zusammenhang natürlich an Egon Friedell ebenso denken wie an Stefan Zweig. Elfriede Gerstl. Foto: Wladimir Fried/Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft Barbara Prammer bei ihrer Ansprache. Foto: W. Fried/Archiv der TKG Madame de Sta£l hat die Parallele zwischen dem Gang ins Exil und dem Sterben so formuliert: Das Exil verdammt dazu, sich selbst zu überleben, der Abschied, die Trennung, alles geschieht wie im Augenblick des Sterbens, und doch wohnt man dem allen in voller Kraft des Lebens bei. Und Carl Zuckmayer hat, wie so viele andere auch, die sein Schicksal des Exils teilten, erkannt und ausgesprochen, dass es aus dem Exil kein Zurück gabe — nur ein Weiter. Dieses Weiter weist aber natürlich in Richtung auf eine andere Dimension des Exils: nämlich die Bedeutung, welche das Exil, welche die Gesamtheit der Exilierten als alternative Öffentlichkeit ihres Heimatlandes gewinnen kann. Wahrscheinlich sind wir uns viel zu wenig dessen bewusst, wie sehr in der Zeit des Nationalsozialismus kraft des Wirkens österreichischer Künstlerinnen und Künstler, österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Ländern des Exils Verständnis für Österreich geweckt worden ist: Verständnis für das gesellschaftliche Potenzial eines Landes, in dem sich dieses Potenzial unter der Wirkung dieser Gewaltherrschaft nicht äußern und nicht entfalten konnte. Im Exil hatte dieses Potenzial die Möglichkeit, sich zu manifestieren: e Musiker wie Arnold Schönberg, der sein Opus 46 dem Aufstand im Warschauer Ghetto widmete, e Maler wie Oskar Kokoschka, der sich in seinen im Londoner Exil entstandenen politischen Bildern mit Faschismus und militärisch-industriellem Komplex auseinandersetzte, machten deutlich: es gab ein geistiges Österreich, das in Opposition zum Nationalsozialismus stand! Die Aktivitäten der österreichischen Kulturschaffenden, beispielsweise im Londoner „Austrian Centre“, bewahrten die