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sprachen unterhalten. Diesen Eltern wurde bislang (die Hoffnung stirbt zuletzt) nicht gesagt, daß das zu keiner Sprachkompetenz der Kinder in irgend einer Sprache führen wird. Es ist, wie es ist. Wer es schönredet, mir auch recht. Eines sei bezeugt: Diese wunderbare, innen und außen kostbare Anthologie „In welcher Sprache träumen Sie?“ ist ein Beleg für das, was einst noch breiter, noch tiefer vorhanden, sich hinüber und herübergerettet hat, aber eben gewesen war: Die hohe (und allgemeine) Kultur der deutschen Sprache. Marie-Therese Kerschbaumer, geb. 1936 nahe Paris. Mutter Österreicherin, Vater Kubaner. 1939 Rückkehr nach Tirol. Haupt- und Berufsschule; Fremdarbeiten. Abendmatura. Studium der Romanistik und Germanistik, Studienaufenthalte in Italien und Rumänien. Lebt seit 1971 als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Wien. Zahlreiche Preise. Bücher u.a.: Gedichte (1970); Der Schwimmer (Roman, 1976): Der weibliche Name des Widerstands (1980); Schwestern (Roman, 1982); Essays (1989); Versuchung (Roman, 1990); Neun Canti auf die irdische Liebe (1989); Die Fremde (1992), Ausfahrt (1994); Fern (2000); Versuchung (2002); Orfeo (2003); Neun Elegien (2004); Calypso. Uber Welt, Kunst, Literatur (2005). — 2007 erschien eine Werkausgabe in dreizehn Banden mit einem Essayband von Hans Holler im Wieser Verlag. Anmerkungen 1 Anne Betten: Die Sprachinsel der Jeckes. In: Sprachen. Jiidischer Almanach des Leo Baeck Instituts. Hg.von Gisela Dachs. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2007, 33-41. 2 A. Betten, wie oben, 33. 3 A. Betten, wie oben, 34. Bei ihrem Wienaufenthalt hatte Kathy Leichter ein dichtes Programm. Die amerikanische Enkelin der österreichischen Sozialistin Käthe Leichter (1895 — 1942) arbeitet gerade an einem Film über ihre Familiengeschichte. Vergangenheit und Gegenwart treffen für sie hier in Wien manchmal auf schmerzhafte Weise aufeinander. So beispielsweise, wenn sie mit Überlebenden aus Ravensbrück zusammenkommt, die ihre Großmutter kannten. Oder wenn sie jene Adresse am Rudolfsplatz besucht, an der Käthe Leichter aufgrund des Verrats durch einen Spitzel verhaftet wurde. Oder wenn sie im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Details aus den letzten Tagen ihrer Großmutter in Ravensbrück erfährt, bevor diese von den Nazis umgebracht wurde. Kathy Leichter nutzte ihren heurigen Europaaufenthalt auch dazu, zur diesjährigen Befreiungsfeier nach Ravensbrück zu fahren. Es ist nicht ihr erstes Filmprojekt. Leichter ist beruflich Filmemacherin und Medienaktivistin. Ihr Film „A Day’s work, a Day’s Pay“, in dem sie gemeinsam mit Jonathan Skurnik New Yorker SozialhilfeempfängerInnen portraitierte, wurde im Rahmen des Dokumentarfilmfestivals „Normale 2007“ in Wien gezeigt. Die Menschen, die zur Verrichtung unterbezahlter Arbeit verpflichtet werden, um eine öffentliche Unterstützung zu bekommen, sprechen im Film für sich selbst und zeigen, dass es möglich ist, sich gemeinsam gegen Bevormundung und Herabsetzung zur Wehr zu setzen. Über die gesellschaftskritisch und medienpädagogisch arbeitende „Workfare Media Initiative“ wurde der Film in verschiedenen US-amerikanischen Sozialeinrichtungen und Schulen gezeigt und führte zu Diskussionen über Armut, Politik und Sozialwesen und zur kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Politik im Umgang mit sozial Deklassierten. In gewisser Weise tritt Kathy Leichter mit diesem Film in die Fußstapfen ihrer Großmutter, die sich für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeiterinnen einsetzte. Doch jede Generation erobert sich die Welt neu, da sind nicht nur die Bindungen an die Vergangenheit, sondern auch die Versprechen der Zukunft. Manchmal aber kommt es in Familien zu einer geradezu unheimlichen Wiederholung bestimmter Situationen, die im Lauf mehrerer Generationen, wenn auch unter geänderten Umständen, stattfinden. Diese Wiederholung ist ein Thema in Kathy Leichters aktuellem Film. Darin geht es um drei Frauengenerationen: ihre Großmutter, ihre Mutter und sie selbst. Und es geht um Verlust. Ihre Großmutter wurde 1942 von den Nazis ermordet. Ihre eigene Mutter nahm sich vor über zwölf Jahren das Leben. Es ist die Wiederholung dieser traumatischen Trennungserfahrung innerhalb der Familie, die Kathy Leichter beschäftigt. Als sie selbst Kinder bekam - ihre beiden Söhne Otto und Henry -, tauchte die angstvolle Frage auf: Würde sie ihre Kinder einmal auf so traumatisierende Weise verlassen, wie sie selbst von ihrer Mutter verlassen wurde? Es ist überraschend wohin einen die Arbeit während des Drehens führt. Du verfolgst einen bestimmten Plan und plötzlich bist du ganz wo anders. Ursprünglich ging es mir im aktuellen Film zum Beispiel um die Generationenfolge Großmutter, Mutter, Tochter. Aber im Lauf der Arbeit rückte mein Vater immer mehr in den Mittelpunkt, als die Person, die im Lauf ihres Lebens zwei große Verluste erfuhr: zuerst den der Mutter durch die Nazis und später, in den USA, den der Ehefrau, erzählt Kathy Leichter. Das Hauptthema des Films ist der Verlust, aber im Grunde ist es ein Film über das Leben, auch über seine freudigen und positiven Seiten. Mutter zu sein, kann sehr freudvoll sein, ebenso das Verhältnis zwischen Mutter und Kind. Es ist ein Film sowohl über das Leben als auch über den Tod. Der äußerlich wahrnehmbare Umgang mit dem Verlust war in den vorhergehenden Generationen unterschiedlich. Jener Teil der Familie, dem die Flucht vor den Nazis gelungen war, war in den ersten Jahrzehnten mit dem Aufbau einer Existenz in einem fremden Land beschäftigt. Die zweite Generation kann in