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aus dem Burgenland und arbeitete vis ä vis bei Dr. Blau. Nicht
der mit der tätowierten Frau — „Und wenn er nachts nicht
schlafen kann, so schaut er sich die Bilder an...“ Daß sie weg¬
ging, war sehr schade, denn ich teilte mit ihr eine wöchentliche
Skandalzeitung, in der Wiens damalige große Leidenschaft, die
Lustmorde, detailreich geschildert wurden. Auch höchst inter¬
essante Fortsetzungsromane, die wir gemeinsam verschlangen
und auf deren Fortsetzung wir sehnlichst warteten. Ich erinnere
mich an folgenden bedeutungsschweren Satz: „Aber unter
ihrem Kleid war sie nackt“ — das war die böse Dunkle, die liebe
Blonde hingegen wurde vor Kummer krank und starb. Unser
letztes Dienstmädchen hieß Poldi, eine mächtige Gestalt. Nach
dem Anschluß heftete sie sich ein besonders großes Hak¬
enkreuz an die Brust und begleitete meine Mutter täglich ins
Geschäft, solange wir es noch hatten. Über ihre eigene poli¬
tische Überzeugung sprach sie nie, aber bei ihr war meine Mut¬
ter sicherer als bei Kevin Costers Bodygard.

Eigentlich fing alles ganz gut an. Bei Schuleintritt konnte ich
schon fließend lesen, ich weiß nicht mehr, ob Vally mir das
beigebracht hatte. Wer sonst? Auf jeden Fall war ich schon
eifriger Besucher einer kleinen Bibliothek in der Lilienbrun¬
nengasse. „Der Gefangene der Krähenindianer“ war, glaube ich,
mein erstes Buch. Auf jeden Fall regte ich mich, als alter
Habitug, sehr auf, als unsere Lehrerin den anderen Kindern das
Lesen und Rechnen auf, wie ich fand, recht kindische Weise
beibrachte. Um die Zahlen 6 und 9 zu erklären, bezeichnete sie
sie als Löffelchen, die einmal so und einmal so lagen. Auf je¬
den Fall hatte ich in den vier Jahren Volksschule keinerlei
Mühe, und auch die Aufnahmeprüfung in die Schottenbastei
schaffte ich ohne Schwierigkeiten.

Das anschließende Gymnasialdebakel hatte eine sehr ein¬
fachen Grund: Ich war mir weitgehend selbst überlassen und
vom Alter her nicht fähig, damit sinnvoll umzugehen. Meine
Mutter arbeitete meistens bis spät in die Nacht, und außer gele¬
gentlichen Wutanfällen und Drohungen kam da wenig Hilf¬
reiches. Vally und die anderen Dienstmädchen konnten mir mit
ihrer rudimentären Schulbildung auch nicht weiterhelfen. Und
die gelegentlichen Hauslehrer wirkten höchstens punktuell in
Mathematik. Und so rutschte ich immer mehr in ein Chaos, das
schnell die groteskesten Formen annahm. In der Nacht übte ich
stundenlang die Unterschrift meiner Mutter, denn bei nicht
gemachten Hausaufgaben, schlechten Prüfungsresultaten wur¬
den Bestätigungen des Elternhauses verlangt. So fabrizierte ich
fleißig das Geforderte. Irgendwann ging dieses Fälscherglück
in Stücke, nämlich als sich die Schule, brieflich direkt an meine
Mutter wandte. Meine Mutter erschien überraschend in der
Schule, sprach im Gang mit den verzweifelten Professoren, ich
wurde aus der Klasse gerufen, meine Mutter schrie: „Warte nur,
bis du nach hause kommst!“ Zu Hause wurde mir voll Wut eine
Teekanne über den Kopf geleert. Da der Tee stark gezuckert
war, hatte Vally dann große Mühe, meine verklebten Haare
sauber zu bekommen.

Ich hielt mich in der Nacht künstlich wach, da ich fand, im
Schlafen vergehe die Zeit viel zu schnell und der gefürchtete
Morgen dämmere viel zu früh herauf. Ich erfand fiktive
Rechenmethoden, um die Divisionsprobe nicht rechnen zu
müssen, und verstrickte mich immer tiefer in ein Lügengewebe,
aus dem ich nicht mehr herausfand. Das ging so weit, daß ich
falsche Hausaufgaben anstelle der richtigen machte.

Mit einem Wort, diesen Energieaufwand anders eingesetzt,
wäre ich ohne Zweifel Klassenprimus geworden.

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Dazu kam die Langeweile des damaligen Unterrichts. Das
deutsche Lesebuch bewegte sich eng zwischen Ganghofer und
Schiller, dessen Gedichte, und die sind lang, auswendig zu ler¬
nen waren. Ich kann sie bruchstückweise noch immer und
schätze sie heute mehr als damals:

Er stand auf seines Daches Zinnen

und blickte mit vergnügten Sinnen...

... du rettest den Freund nicht mehr,

so rette das eigene Leben...

Heute muß die Glocke werden...

Gestehe, daß ich glücklich bin...

Gewähr mir die Bitte...

Im Geschichtsbuch endete fast jedes Kapitel mit dem fatal¬
en Satz: „Trotz größter Tapferkeit mußten sich die österrei¬
chischen Truppen zurückziehen.“ Ich erinnere mich noch an
meinen armen Geographieprofessor, der an der Wandtafel
dozierte: „Die Küsten Europas werden bespühlt ...‘“ Das inter¬
essierte uns wenig und wir beschossen ihn mit Papierkugeln.
Französisch bot uns nebst Grammatik „Le voyage de Monsieur
Périchon“, just aus dem Winkel der französischen Literatur, die
sich im Spinnweb des 19. Jahrhunderts verfängt.

Das war dann in Frankreich ganz anders. Michelet, Racine,
Marot, Hugo. ,,L’avenir, l’avenir est 4 moi.“ Und dann mit
düsterer Stimme: „L’avenir n’est ä personne...“ Zu den Klän¬
gen der Marseillaise wurde zu den Waffen gerufen, die Aris¬
tokraten hingen an den Laternen und der „große Korse‘ stürmte
bis vor die Tore Wiens und hier treffen wir uns ja wieder...

Gerettet wurde ich jeweils durch die langen Sommerferien.
Man konnte den Schulstoff in Ruhe durcharbeiten, im Herbst
eine Nachprüfung absolvieren, die ich dann regelmäßig be¬
stand, und so in die nächste Klasse aufsteigen.

Meine Klasse an der Schottenbastei war ungefähr zwei¬
geteilt. Eine Hälfte Juden, eine Hälfte Christen. Ich war zum
Anführer der jüdischen Schüler in meiner Klasse avanciert, wie,
weiß ich nicht mehr. Bei den Klassenausflügen in den Wiener¬
wald verschaffte sich jeder einen passenden Ast und beim er¬
sten Halt wurde aufeinander losgeprügelt. Der Anführer der
Christen hieß Fischer, und wie das bei feindlichen Generälen
so üblich ist, verstanden wir uns eigentlich recht gut. Ich lud
ihn auch einmal zu mir ein und empfand zum ersten Mal die
Scham des Reichen gegenüber dem Armen. Bei uns im „Salon“
stand ein Bechsteinflügel, auf dem meine Mutter, selten aber
doch, immer die gleiche Polonaise von Chopin spielte, mit im¬
mer dem gleichen Patzer an der gleichen Stelle. Darum herum
imitierte Maria-Theresien-Stühle, zwei Fauteuils mit Messing¬
Löwenköpfen an den vorderen Stuhlbeinen, eine echte Kom¬
mode und eine Glasvitrine mit Nippes. Auf dem Boden ein
großer Perser. Wie es bei ihm vermutlich aussah, wußte ich von
den Wohnungen unserer Dienstmädchen.

Aus dem Spielen im Kinderzimmer entwickelte sich eine
wilde Rauferei im Salon, bei der eine Schale mit Nüssen, die
auf dem Klavier stand, in Brüche ging und ein kreisrundes Loch
in seine Kappe riß. Pullmannkappe hieß sie in Wien, Béret
basque später in Frankreich. Das geschah am Samstag. Am
Sonntag läutete es. Als ich aufmachte, stand Frau Fischer in der
Tür, das Corpus delicti in der Hand, und verlangte mit düster¬
er Miene meine Mutter zu sprechen. Ich verkroch mich ins
Kinderzimmer, und so konnte ich den Streit der Königinnen auf
der Domtreppe zu Worms nicht wörtlich verfolgen. Meine Mut¬
ter sagte anschließend nur, sie habe die freche Person hinaus¬
geschmissen. So endete je und abrupt die aufkeimende Freund¬
schaft zweier bedeutender Heerführer.