Und dann kam die Barmizwah. Mit dreizehn wird ein männlich¬
er Jude volljährig und „für sein Tun und Lassen“ verant¬
wortlich. Er tritt im Tempel inmitten alter Juden, gehüllt in den
Tallit, einen weißen Gebetsschal mit schwarzen Streifen, vor
die Tora und hat zwei hebräische Sätze daraus vorzulesen.
Damit das fließend und würdevoll abläuft, wird er während
mehrerer Wochen von einem armen aber frommen Mitglied der
Gemeinde besucht, der ihm den Sinn der Sätze erklärt und deren
Auswendiglernen überwacht. Ich hatte die Zeremonie schon
öfter gesehen. Meist saßen drei Kandidaten auf der vordersten
Bank und wurden in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen.
Als mein großer Tag kam, bemerke ich zu meinem Entsetzen,
daß ich allein war. Erst dachte ich, die anderen hätten sich ver¬
spätet, aber nein, ich blieb allein auf meiner Armensünderbank.
Während der Zeremonien, die meinem Auftritt vorangingen,
geriet ich immer mehr in Panik. Als ich aufgerufen wurde, stieg
ich mit zitternden Knien die Stufen hinauf. Fand mich in ein¬
er weiß verhüllten Geisterversammlung. Von der Galerie
schauten meine Mutter und meine weiblichen Verwandten auf
mich herab. Der Text war wie weggewischt, ich wußte kein
Wort mehr. Der Chef der Verhüllten mußte mir jedes Wort
einzeln vorsagen. Nicht nur meine Mutter, meine Verwandten,
nein, die ganze Seitenstätten-Synagoge und über den Wolken
der Liebe Gott runzelten mißbilligend die Stirne.
Michael Freisager wurde 1924 in Wien geboren und flüchtete
1938 über Prag nach Nizza. Nach mehreren Razzien gelang ihm
von dort die Flucht in die Schweiz, wo er in acht verschiede¬
nen Lagern interniert war. 1943 begann er eine Ausbildung an
der Kunstgewerbeschule Zürich, danach folgte eine Lehre als
Graphiker. 1956 erhielt er das Bürgerrecht, d.h. die Schweiz¬
er Staatsbürgerschaft, und heiratete. Bis 1988 arbeitete er als
Graphiker, seitdem widmet er sich ausschließlich der Malerei.
Ausstellungen in New York und Zürich.
Der vorliegende Text stammt aus einem überarbeiteten
Manuskript Freisagers, das er 2003 ursprünglich als Script für
den autobiographischen Film „La Question“ (Die Frage)
schrieb, der von der Paul Grüninger-Stiftung in St. Gallen fi¬
nanziert wurde. Das Manuskript trägt den Titel „Die Flucht“.
Im Juni erscheint im Verlag der Theodor Kramer der his¬
torische Essay „Schule und Verbrechen“ von Renate Göllner,
ein Buch, das erstmals die Verfolgung und Vertreibung jüdi¬
scher Mittelschüler von Wiens Mittelschulen thematisiert.
Darin finden sich auch längere Textpassagen aus dem
Manuskript Michael Freisagers.
Ich wohne seit einem halben Jahrhundert in Tel-Aviv und lie¬
be diese Stadt, die mit keiner anderen Stadt auf der Welt zu ver¬
gleichen ist. Wir wohnten, als wir ins Land kamen, einige Jah¬
re in Herzlija, dort begann man schon damals, Anfang der fünf¬
ziger Jahre, für neue Olim (Zuwanderer) zu bauen, doch wir
wollten nur nach Tel-Aviv. Wir fanden eine Wohnung am Di¬
zengoffplatz (Zamenhofstraße 3), wir hatten, als wir dort ein¬
zogen, keine Ahnung, daß wir im Zentrum, ich kann sagen, daß
wir im Herzen der Stadt, ja Israels wohnen. Wir fanden nach
drei Jahren eine größere und bessere Wohnung in der Stand¬
straße, die eine Nebengasse der Zamenhofstraße ist. Dort
wohnten wir 33 Jahre, und dort wurde ich eine Tel-Aviverin,
wie es sich gehört.
Die Standstraße nämlich ist eine Straße, die man sich eher
in einem Städtl im Norden Europas vorstellen kann, als in ei¬
ner jungen, modernen Stadt wie Tel-Aviv. Die Leute, die hier
wohnen, sind Watikim (Alteingesessene), und die meisten von
ihnen haben ihre seinerzeit nach Palästina mitgebrachten Ge¬
wohnheiten und ihre Lebensart beibehalten. Neueinwanderer
wie uns gab es, glaube ich, keine in der Straße. Man traff sich
im Makolet (beim Greisler), man bekam Auskümfte, wo man
billiger einkaufen könne, man bekam Komplimente über die
neue Bluse oder das Gegenteil. Eines Tages, als es meiner Fri¬
seuse gelang mich zu überzeugen, meine Haare zu schneiden
(ich trug seit Jahren die Haare lang und hochgesteckt), wurde
ich von näheren und ferneren Nachbaren auf der Straße ange¬
halten und gefragt, wie ich so eine Dummheit machen konnte,
mir die Haare abzuschneiden. Es waren unter den Leuten, die
mich ansprachen, Männer die nie mit mir gesprochen und mich
nicht einmal gegrüßt hatten. Eine andere Begebenheit, an die
ich mich erinnere: Als ich vor unserem Jom Haazmaut (Unab¬
hängigkeitstag) auf unserem Balkon die blau-weiße Fahne
hißte - es ist wahr, die Fahne war nicht mehr neu und nicht sehr
rein —, bekam ich einen Anruf von einer Nachbarin, die mir in
scharfen Worten sagte, ob ich, die ich doch ganz nett und sau¬
ber aussähe, mich nicht schämte, eine solche Fahne auf mei¬
nen Balkon zu hängen. Ich weiß bis heute nicht, welche Nach¬
barin mir das sagte, ich ging und kaufte eine neue, schöne und
große Fahne, ich habe sie noch heute. (Leider wieder etwas ver¬
blichen...)
Das sind Begebenheiten aus den fiinfziger Jahren, doch die
Standstraße ist die gleiche geblieben, oder kommt es mir nur