OCR
Am 20. August 1938 unternimmt Kramer einen Selbstmordversuch und wird von Freunden in ein „Grünes Haus“ am Stadtrand von Wien gebracht (Hameaustraße 38 in Salmannsdorf), um sich zu erholen. Dem ihn behandelnden Arzt Dr. Bruno Frisch widmet Kramer am 24. August das Gedicht „Nach einem mißglückten Selbstmordversuch“, Der Mensch wünscht dieses leis und jenes schrill: ich wünsche nichts, als manches zu vermeiden, die Oual der Angst; die Leere auszuweiden ist mein Geschäft, das ich zu wenig will.* Auch in dem mit 25. August 1938 datierten Gedicht „Von einem wirklich Lebensmüden“ spricht Kramer von einem Selbstmordversuch und schildert möglicherweise den Hergang: Er habe das Gift in einem Hotel genommen, sei dann „frei von Angst und Kummer“ bis zum Morgen wach gelegen, dann in den „nahen Wald“ gelaufen, um dort zu sterben, mit Durchfall und Erbrechen, und habe bei Anbruch der Nacht doch ärztliche Hilfe gesucht und gefunden.’ Im September muß die Familie in ein engeres Quartier umziehen, und Kramer wird von einem SA-Mann beim Anstellen vor einem Konsulat niedergetreten. Am 11. Oktober wird ihm ein deutscher Reisepaß mit einem großen J-Stempel ausgestellt, in den am 1. April 1939 auch noch ein zweiter Vorname eingetragen wird: Israel. Ende 1938 finden sich „Sämtliche Schriften“ Kramers auf der von der Reichsschrifttumskammer geführten „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Er besucht Kurse der Israelitischen Kultusgemeinde, um sich auf die Emigration vorzubereiten — einen Buchbinder-Lehrgang und einen für künftige Hausbedienstete. Denn nur ganz Prominente und „domestic servants““ dürfen nach Großbritannien. Im Februar 1939 verläßt seine Frau Inge Kramer-Halberstam Wien: Sie darf nach England ausreisen, um eine Stelle als Hausgehilfin anzutreten. Schließlich gelingt auch Kramer die Flucht. Am 21. Juli 1939, gerade noch vor Kriegsausbruch, erreicht er England. Wie es dazu kam, daß ihm schließlich doch die Einreiseerlaubnis nach Großbritannien gewährt wird, läßt sich kaum mehr klären. Beteiligt sind u.a. Inge Halberstam und ih- I re Dienstgeberin, Jo- § sephine Willcock in | Albrighton bei Wol- 3 verhampton, Thomas Mann, Ernst Waldin- | ger, Volkmar von | Zählsdorff in den | USA, Arnold Zweig | und Kurt Blaukopf in ® Paris, der englische | P.E.N.-Club, die @ American Guild for | German Cultural | Freedom. Kramer § selbst nennt in einem | Brief an Kurt Blau- § kopf den Literaturund Filmagenten Paul Kohner (1902 — 1988) Sa als den eigentlich entscheidenden Helfer.* Für Kramer ging es nicht nur um die Ret (Digaftftettey “ 5 Ort und Papılm) 40s ae Wien 9, Nupdorferfirape 23 © (Aitengeisden) (Straße) ee ae <2 LF eb. 1939, A Steuerliche Unbedenklichkeitsbefcheinigung A a Me zwei Monate ab Ausftellung) ; 5 Ar, aaa pal Gegen die Ausreife des(t) Udy, 2 POR BE RA 4 dag oy Stand, © uname) y , ’ RR. Ünl packen 7 ‚ geboren am YY... “ES # Wierd thd Mn md-feiner-Ehefran r geborene nn ging. FEBOEEN - AM en m 2 BEE See ee genera T a te wWihicos1oy (Qthiterfaetft) ractoarudere) ion, (2t.) W859 a8 923 Steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung vom 21. Februar 1939. tung seiner Person, sondern auch seines Werkes. Er handelte umsichtig. Er verteilte seine Manuskripte an „arische“ Freunde zur Aufbewahrung. Er gab sie in kleinen Portionen Ausreisenden mit. Vieles davon hat Kramer selbst wieder eingesammelt, manches hat erst sein Nachlaßverwalter Erwin Chvojka wieder zusammengetragen. Aber es scheint eine Lücke zu geben: In der monumentalen dreibändigen Ausgabe von 2.035 Gedichten Kramers finden sich aus der Zeitspanne vom 22.2. 1937 bis zum 20.4. 1938 nur drei Gedichte, ein soziales, „Seit die Spinnerei in unserem Flecken steht...“ vom 9.3. 1938, ein harmloses, das vielleicht nicht ganz harmlos ist, „Schreberhütten im Winter“, gedruckt in der „Neuen Freien Presse“ vom 25.12. 1937, und ein offenkundig politisches, „Nach neunzehn Jahren‘“, datiert 20.10. 1937. (Auf dieses Gedicht komme ich noch zurück.) Ist Kramer, der sich im Jänner 1938 selbst zum Chronisten berufen hat, angesichts der Ereignisse verstummt? 1943 schreibt er in einem Brief an eine Freundin: Im Zug dachte ich mir eine Arbeit aus und mir fielen die Gedichte Ende 1937 Anfang 1938 ein, die zum Allerbesten gehören und die ich nicht habe. Es ist ein so rasender Schmerz, als ob mir ein Messer in den Leib gestoßen und langsam umgedreht würde..." Wo sind diese Gedichte? Sind sie auf ewig verloren? Vielleicht schrieb Kramer später Gedichte, die diesem verschollenen Werk auf der Spur waren. Gedichte folgen ja oft dem Schatten eines Versäumten, eines halb Vergessenen, Verlorenen. Der große Zyklus „Wien 1938“, den Kramer in England später ausfeilte, hebt mit Gedichten vom April 1938 an. In „Wien 1938“ konzentriert sich Kramer ganz auf das Leben der von den Nationalsozialisten Verfolgten. Zwischen ihnen und denen, die wie immer weiterleben, hat sich bereits eine unüberbrückbare Kluft aufgetan. Nicht einmal Kramer, der die vielfältigen Typen Wiens und seiner Umgebung nie aus dem Auge verlor, kann sie in seinen Gedichten überwinden. Er spricht nun vom Alltag der Verfolgten, vom Zusammenziehenmüssen in überbelegte „Judenwohnungen“, von der täglichen Angst, abgeholt zu werden, vom Abschied, von seiner Heimatliebe, von seinem 1935 verstorbenen Vater: Ich bin froh, daß du schon tot bist, Vater, daß du starbst, bevor die Horde kam, die mich schrubben ließ, die mir im Prater am Kastanienblust die Freude nahm." 35