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Ein paradoxer Trost ist es, den sich Kramer hier selbst und seinem Vater spendet. Es ist eine der wenigen Stellen bei Kramer, in der er Mißhandlungen erwähnt, die ihm angetan wurden. Auch in dem Gedicht „Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“, entstanden am 13. Juli 1938, ist Paradoxes der Ausgangspunkt. Im Vergleich zu den 151 anderen, die etwa am 1. April 1938 ins KZ Dachau deportiert wurden, scheint Kramer glimpflich davongekommen. Man hat ihm bloß die Wohnung genommen, ihn gedemütigt und getreten. Das Gedicht gewinnt seine hellsichtige Schärfe aus einem in ihm mitschwingenden Wissen um Späteres. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Ich darf schon lang in keiner Zeitung schreiben, die Mutter darf noch in der Wohnung bleiben. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Der Greisler schneidet mir den Schinken an und dankt mir, wenn ich ihn bezahle, kindlich; wovon ich leben werd ist, unerfindlich. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Ich fahr wie früher mit der Straßenbahn und gehe unbehelligt durch die Gassen; ich weiß bloß nicht, ob sie mich gehen lassen. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Es öffnet sich mir in kein Land die Bahn, ich kann mich nicht von selbst von hinnen heben; ich habe einfach keinen Raum zum Leben. Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan. Dem Zuspruch, daß ihm doch nichts (nichts besonderes) geschehen sei, folgt die wachsende Verzweiflung, die einen Mo + x Za) Sx u hat den Lehrgang für. baveettice FLEE LEO a absolviert und durch Prüfungsarbeiten nachgewiesen, daß = in diesem 5 Be Umschichtungsstelle: fang fis, Le tusgomeinds ~ A Wsacsbildung 2.2... gates, ng Referent Am 20. März 1939 erhält Theodor Kramer eine Bestätigung über seinen Besuch eines ,, Lehrganges for domestic servants“ (Hausgehilfen) im Rahmen der Auswanderungsabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. 36 nat später zu dem schon erwähnten Selbstmordversuch führt. Kramer hat Jahre danach noch versucht, die Verzweiflung nicht panisch abzuwehren, sondern anzunehmen, als eine Zuflucht, als „letzten Rest vom Rest“, wie es in „Lob der Verzweiflung“' heißt. Um den, der da „unbehelligt‘“ durch die Gassen geht, hat sich ein Leerraum gebildet, durch den er möglichst unauffällig gleitet; man atmet nur mehr zufällig die gemeinsame Luft. Das ist kein „Raum zum Leben“, wie Kramer in bitter-ironischer Anspielung auf die Lebensraum-Ideologie der Nazis sagt. Die Kontinuität des Lebens ist zerstört („wovon ich leben werd, ist unerfindlich“). Das Gedicht handelt von einem Bruch, einem Bruch der Lebensperspektiven, der Persönlichkeit und ihrer Tätigkeit. Es sagt: Mir wurde nichts getan, mir wurde nur alles zerbrochen. I. Der Gedichtzyklus „Wien 1938“ ist dem Musikwissenschaftler Kurt Blaukopf (1914 — 1999) gewidmet. Blaukopf flüchtete 1938 nach Paris, ging 1940 nach Palästina und kehrte 1947 nach Wien zurück. Kramers Bekanntschaft mit Blaukopf entwickelte sich aus der Freundschaft mit Blaukopfs Eltern, Anna und Kurt Blaukopf, die einem seit 1935 in einem Gasthaus im 19. Bezirk tagenden sogenannten Theodor Kramer-Sparverein angehörten, dem auch Fritz Hochwälder, Leopold Liegler und Johann Muschik angehörten.'* Der junge Kurt Blaukopf, der bei seinen Eltern in der Sternwartestraße in Wien-Döbling wohnte, besuchte Kramer und dessen Frau wiederholt in deren damaliger, ebenfalls in Döbling liegenden Wohnung, Kaasgrabengasse 19. Dem Verfasser erzählte er 1983: Wenn Blaukopf mittags zu Besuch kam, wurden ihm Apfel, Speck und Wein angeboten. [...] Kramer „war ein sehr systematischer und pflichteifriger Zeitungsleser“ (das beweisen schon die vielen Gedichte, die ihre Anregungen Zeitungsnotizen verdanken), „und ich weiß nicht, ob er alle Teile der Zeitung, auch die politischen, mit derselben Intensität gelesen hat. Ich vermute es aber ... Wenn er auch keinen systematischen Zugang zur Politik hatte, so dachte er doch politisch. Immer in etwas metaphorischer Form, aber durchaus treffend.” Eines Tages habe Kramer Blaukopf ein Gedicht vorgelesen, zu dem er sagte: „Gestern habe ich ein Gedicht geschrieben, das wird meinen Genossen nicht gefallen. Und zwar aus politischen Gründen.“ Blaukopf konnte sich 1983 an eine charakteristische Zeile erinnern: „Der Stadt ward vom E-Werk das Licht abgedreht‘. Die Zeile bezieht sich auf den 12. Februar 1934, auf den Arbeiteraufstand gegen den im Bündnis mit den faschistischen Heimwehren diktatorisch regierenden Bundeskanzler Engelbert Dollfuß.'‘ Das Gedicht fand sich in einer Mappe aus dem Nachlaß Johann Muschiks und ist das schon erwähnte „Nach neunzehn Jahren“. Es rekapituliert österreichische Geschichte von 1918 bis 1937. Sie wird als eine Geschichte der Entzweiung von Frontkameraden erzählt, die nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg in ein verarmtes Land zurückkehren. Der eine schreibt, und wo „einer zerlumpt ging und litt, war mein Ort“. Der andere hat irgendwo ein Amt; ihm „krähte die Feder am Hut“ (der Hahnenschwanz, das Zeichen der Heimwehr). Der, der schreibt, gehört zu den Verlierern des Februar 1934: Wovon ich heut leb: von der Hand in den Mund, ich werde ja nirgends gedruckt ...