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EIDGENOSSISCHES JUSTIZ- UND POLIZEIDEPARTEMENT DEPARTEMENT FEDERAL DE JUSTICE ET POLICE DIPARTIMENTO FEDERALE DI GIUSTIZIA E POLIZIA Bern, den 21. April 1939. Rs 8588 Rl. DAS EIDGENORSSISCHE JUSTIZ- UND POLIZEIDEPLRTEIENT hat in der Rekurssache des deutschen Reichsergehörigen Kramer Theodor, ge boren 1. Januar 1897, gegen die Verfügung der eidgenössischen Frendenpolizei vom 17. kärz 1939 befunden und erwogen: Der Rekurrent beabsichtigt nach U.3.&. oder England weiterzureisen. Er hat sich am 17. Juni 1938 euf dem amerikanischen Konsulat in Wien angemeldet, ist im Besitz von drei amerikanischen Affidevits und macht geltend, es bestehe Zussicht, dass er ein englisches Arbeitspermit erhalte, Bis jetzt ist ihm weder das englische noch das amerikanische Visum erteilt worden. Da die Wiedereusreise eus der Schweiz erst bei Vorliegen des Visums des Zielstaates ale gesichert betrachtet und äie Erteilung einer Sinreisebewilligung nur dann in Erwägung gezogen werden kann, wenn die Weiterreise sichergestellt ist, hat das Departement a W entschieden; 1. Der Rekurs vom 22. Mérz 1939 ist abgewiesen, 2. Die Rekurskosten werden dem Rekurrenten euferlegt und sind éurch den geleisteten Kostenvorschuss von Mk. 15,-~ gedeckt. 3. Der Entscheid ist mitzuteilen: a) dem Rekurrenten Kramer Theodor, Wien 9, Lezerettgasse 9/61; b) der kantonalen Frendenpolizei St. Gallen; ce) der schweizerischen Gesanätschaft in Berlin; a) dem schweizerischen Generalkonsulet in Wien; e) der eidgenössischen Fremäenpolizei, mit ihrem Dossier 853504. EIDGENOESSISCHES JUSTIZ- UND POLIZEIDEPARTENENT Im März 1939 erhält Theodor Kramer aus Bern eine „Verweigerung der Einreise- und Aufenthaltsbewilligung‘“ mit der Begründung: „Die Weiterreise ist nicht gesichert“. Auch seine Berufung wird mit 21. April 1939 abgelehnt. Für den Rekurs soll er 15,- Franken zahlen. Doch auch der Sieger des Februar 1934 istnun, 1937, zum Verlierer geworden: .. nicht dir, Kamerad, gilt mein Groll; die Schlemmer sind heut noch die gleichen wie einst, sie schmatzen und schliirfen sich voll. Es wäre gescheit und es wär an der Zeit, man schlüge die Dinge rings grad, das Pack in den Dreck, und ging endlich zu zweit, die Hand ans Gewehr, Kamerad. Es geht also um eine Überwindung der durch den Bürgerkrieg vom Februar 1934 verhärteten Entgegensetzung. Das Gedicht reflektiert gewiß die damals, Herbst 1937, einsetzenden Versuche von Teilen der illegalen Freien Gewerkschaft und Sozialdemokratie, angesichts der Bedrohung durch Hitlerdeutschland zu einer Verständigung mit dem Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg zu kommen. Doch ist in dem Gedicht die Zielsetzung des gewünschten Schulterschlusses politisch nicht klar umrissen. So viel läßt sich aber doch sagen: Für Kramer bedeutete der März 1938 auch den Zusammenbruch von Hoffnungen, die er auf eine „kritische Versöhnung“ der Bürgerkriegsparteien von 1934 gesetzt hatte. Der Kontakt zu Kurt Blaukopf scheint sich auch nach dessen Abreise erhalten zu haben, wie u.a. ein Brief Blaukopfs aus Suresnes in Frankreich an die American Guild vom 30. November 1938 belegt. Blaukopf zeigt sich in dem Brief am laufenden über die verzweifelten Ausreisebemühungen Kramers.” Erhalten geblieben, wenn auch unvollständig, ist jedoch nur die Korrespondenz vom 16. Februar 1940 an; Kramer schreibt, offenbar nach einer Unterbrechung der Korrespondenz, aus Wimborne am 16.2. 1940 an Kurt Blaukopf, der von Frankreich nach Palästina weiteremigriert ist: Ich hoffe, daß sie meine Hefte in Paris ihrem Vater übergeben oder sie mit sich genommen haben, und bitte Sie, mich Näheres wissen zu lassen. [...] Vielleicht sind Sie durch Ihre Mutter und Ihren Vater über uns einigermaßen im Bilde, ich will aber kurz rekapitulieren. Im September leistete ich hier einige Tage schwerste körperliche Arbeit. Dann hatte Inge einen Posten als cook general, ich lebte ohne Gehalt im Haus, machte Holz und Kohlen, bediente einen elenden Füllofen, der immer ausging, wusch Geschirr, schälte Gemüse, machte den black out, fütterte Hund und Katze. Für mich genug. Ich bekam eine Grippe, eine Lymphgefäßentzündung und ein schweres Ekzem, an dem ich schon einmal in Wien laboriert hatte. Wir verloren die Stellung. [...] Im November hatten wir unser tribunal. Wir wurden nicht als friendly aliens wie so viele andere erklärt. Nachher erfuhren wir, daß das tribunal nicht wußte, was der Penclub, der mir eine Empfehlung gegeben hatte, ist! Wären wir friendly aliens, so könnten wir unseren Aufenthaltsort wählen und ohne Erlaubnis ändern. Ferner dürften wir theoretisch jede Arbeit annehmen, falls das lokale Arbeitsamt keinen Einspruch erhebt. Die „Hefte“, nach deren Verbleib sich Kramer erkundigt, enthielten vermutlich „die Gedichte Ende 1937 Anfang 1938“, die Kramer späterhin so schmerzlich vermißte. Ob sie mit den 1991 von Kurt Blaukopf dem Österreichischen Literaturarchiv in der Österreichischen Nationalbibliothek übergebenen Heften identisch sind?" 108 Briefe Kramers an Blaukopf und Blaukopfs an Kramer haben sich erhalten.'” Mit Kramers Brief vom 21. Oktober 1951 bricht die Korrespondenz unvermittelt und ohne einen aus ihr selbst erkennbarem Grund ab. Anmerkungen 1 Vel. Daniela Strigl: ,,.Erschrocken fiihl ich heut mich dir verwandt“. Theodor Kramer und Josef Weinheber. In: Herbert Staud, Jérg Thunecke (Hg.): Chronist seiner Zeit. Theodor Kramer. Wien, Klagenfurt 2000, 255-273. (Zwischenwelt. Jahrbuch der Theodor Kramer Gesellschaft. 7). 2 Zitiert nach: Erwin Chvojka, K. Kaiser: „Vielleicht hab ich es leicht, weil schwer gehabt.“ Theodor Kramer 1897 — 1958. Eine Lebenschronik. Wien 1997, 43f. 3 Brief an Peter Kilian in Schaffhausen, Wien, 7.2. 1937. 4 Zit. nach: K. Kaiser: Auf dem Weg zur „kritischen Versöhnung“. Annäherung an Theodor Kramer in einem Gespräch mit Kurt Blaukopf. In: Die Presse/Spectrum (Wien), 9./10.4. 1983, TV-V. 5 Kramers Ausreisebemühungen sind ausführlich dargestellt in E. Chvojka, K. Kaiser, wie Anm. 2, 45-54. 6 Zweite Strophe des dreistrophigen Gedichts. Zit. nach der Handschrift in der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur (Signatur: H. Kramer 101/81). In den von E. Chvojka herausgegebenen „Gesammelten Gedichten“, Bd. 3, 536, steht „zumal die Angst“ statt „die Qual der Angst“. 7 Th. Kramer: Gesammelte Gedichte. Hg. von E. Chvojka. Bd. 3. Wien 1987, 537. 8 Korrespondenz mit K. Blaukopf. 9 Gesammelte Gedichte. Bd. 3, 415. 10 Brief an Grete Oplatek in London, Guildford, 31.5. 1943. 11 Zit. nach: Gesammelte Gedichte. Bd. 1. Wien 1984, 335. 37