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12 Gesammelte Gedichte. Bd. 1, 352. 13 Gesammelte Gedichte. Bd. 1, 583. 14 Angabe nach Irm Sulzbacher: „Theodor Kramer: Lebenslauf“. Unveröffentlichtes Typoskript im Archiv der TKG. 15 Zit. nach: K. Kaiser: Auf dem Weg zur „kritischen Versöhnung“, wie Anm. 4. 16 Vgl. K. Kaiser: Theodor Kramer und der 12. Februar 1934. In: MdZ 1 (1984) 2, 47. 17 Vgl.: Deutsche Intellektuelle im Exil. Ihre Akademie und die „American Guild for German Cultural Freedom“. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933 — 1945 der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main. (Redaktion: Werner Berthold, Brita Eckert, Frank Wende.) München u.a. 1993, 341. (Die Deutsche Bibliothek: Sonderveröffentlichungen. 18). 18 Signatur 11/W5: Gedichte 15.3. 1937 — 23.10. 1937 und Gedichte 24.10. 1937 - 5.3. 1938. 19 Der Brief vom 16.2. 1940 befindet sich im Original im Archiv der TKG und wurde zusammen mit den Kopien der anderen Briefe im Juli 2004 von Herta Blaukopf, der Witwe Kurt Blaukopfs, übergeben. Die Poesie Kramers vermittelt ein besonderes Lebensgefühl, nicht nur das Lebensgefühl von Außenseitern oder von längst nicht mehr vorhandenen Berufsfeldern. Eine untergründig wirkende anarchische Freiheitsliebe kratzt, bohrt und hammert gegen die Kruste eines prosaischen Alltags und zeigt den Glanz verborgener Sinnlichkeit. Viele, sehr viele Gedichte Kramers bereichern den Kosmos an Sozietät, bezeugen einen menschlichen Zusammenhang, atmen die große Bewegung der Zeit vom Werkzeug zur Maschine, vom Land in die Stadt. Als Chronist hält er fest, was an tradiertem Unrecht noch lang nicht überwunden war, scheut sich nicht vor dem Alltäglichen und beharrt auf dem Besonderen, das sonst der Erwähnung nicht wert befunden wird. Es sind unzählige Einzelne, Individuen, unterschiedlicher Nationalität und Herkunft, die in großer Selbstverständlichkeit in seinen Gedichten unterwegs sind: Der Bäckerbub; Die Weinmagd; Der Roßknecht; Der Vagabund; Die Prostituierte; Der Weinhändler; Der Polier; Kalkbrenner, Donauschiffer, Kohlenarbeiter, Erntehelfer — ein Kosmos ohne hierarchische Ordnung. („Lob der Verzweiflung“, „Lied am Rand“). Manches, was in der Poesie Kramers an Motiven, Beobachtungen und Erfahrungen entfaltet wird, deutet sich bereits in seinen frühen Gedichten an, fühlt er sich zu Gegenständen, Orten und Typen hingezogen, die sich ihm in seiner Kindheit im Weinviertel und Jugend in Wien eingeprägt haben. Lebensbilder, die er immer wieder aufgreift und neu gestaltet. Die erste große Veränderung in seinem Leben war die Umsiedlung nach Wien im Alter von 11 Jahren, um hier die Realschule in der Vereinsgasse (k.k. I. Staatsrealschule im II. Bezirke Wien), in der Leopoldstadt, zu besuchen. In seinem Geburtsort Niederhollabrunn war er nicht in die allgemeine Volksschule gegangen, sondern erhielt Hausunterricht und dtirfte wohl von seiner Mutter, Babette Kramer, sehr umsorgt worden sein. Sein erstes Schuljahr 1907/08 verbrachte er im Real- und Obergymnasium in Stockerau. Uber dieses Schuljahr schrieb Kramer in einem Brief 1951, daß er von seinen Mitschülern sehr verfolgt, als „Kaiphas“ bezeichnet wurde, „also religiöser Antisemitismus ...“. Die Übersiedlung nach Wien zu seinem älteren Bruder Richard war eine Reaktion der Eltern, die den Sohn nicht weiter in dem kleinstädtischen Milieu mit seinen irrationalen religiös motivierten Ausgrenzungen belassen wollten. Wie spöttisch, bösartig und vielleicht auch gewalttätig die38 se Ausgrenzung des „Jüdischen“ war, zeigt sich an der Tatsache, daß es Theodor, trotz des gleichzeitig herrschenden Obrigkeitsdenkens, überhaupt nichts half, Sohn eines Gemeindearztes zu sein. Von der relativen Anonymität der Großstadt sollten die Kramer-Geschwister profitieren, dort sollten sie freiere Entwicklungsmöglichkeiten vorfinden. Die Leopoldstadt war zu der Zeit, als Kramer dorthin gelangte, ein sehr inhomogener und bunter Stadtteil: Einerseits bürgerliche Wohnhäuser zum Donaukanal, zur Inneren Stadt hin und um den Augarten, mit größeren Wohnungen und die prachtvolle Praterstraße mit ihren Palais und schönen Bauten. An ein vornehmes Viertel erinnert sich Arthur Schnitzler für die 1860er Jahre. Andererseits, hinter den Prachtbauten, trübsinnige Ghettoatmosphäre; Massenquartier-Bauboom um 1900, trostlose Hinterhöfe, zehn Parteien auf einem Stock, maximal Zimmer-Küche-Kabinett mit Bassena (Stockbrunnen und Toilette am Hausgang für mehrere Parteien). Wien war (nach heutigem Gebietsstand) von 550.000 bis 1910 auf zwei Millionen Einwohner angewachsen. In die Leopoldstadt kamen im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jüdische Einwanderer aus Mähren, Böhmen und Ungarn. Die Zuwanderung aus Galizien und der Bukowina setzte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein. Die Zusammensetzung war damit sehr vielschichtig. Die Menschen kamen aus Dörfern, aus Kleinstädten, hatten einen unterschiedlichen Sprachhintergrund, wenn auch das Jiddische allgemeiner war. Ein nächster Flüchtlingsstrom aus den umkämpften Gebieten im Osten des Reiches erreichte Wien während des Ersten Weltkrieges. Von 38.772 Flüchtlingen waren 34.223 Juden, unter ihnen viele religiös-orthodoxe und zugleich verarmte Menschen. Die am Nordbahnhof Ankommenden hielten sich oft zunächst im Prater auf, wo sie sich als Hausierer durchzubringen suchten. Obdachlosigkeit war für Zuwanderer eine bedrohliche Angelegenheit: Sie konnten in ihre zuständige Heimatgemeinde abgeschoben werden. Ein Vergleich: Von der zweitgrößten Einwanderungsgruppe in Wien, den Tschechen, lebten um 1900-10 etwa 5-6.000 in der Leopoldstadt. Neben den gründerzeitlichen Bauten entstand, bereits 1899 beim Bau des Winterhafens, ein Slum aus Erdhütten, die abgerissen und durch von der Behörde errichtete Wohnbaracken