ersetzt wurden. Aber im Auwald und über der Donau in Kagran
entstanden neue Erd- und Bretterhütten. Den Skandal rund um
die Unterkünfte der Arbeiter und um die sanitären Verhältnis¬
se deckte der Sozialreporter und Journalist der Arbeiter-Zeitung
Max Winter auf. Seine Reportage „Die Höhlenbewohner von
Wien“ und die Polemik gegen die Fahrlässigkeit der Lueger¬
schen Stadtverwaltung richtete sich außerdem gegen den auf¬
hetzenden Antisemitismus der christlich-sozialen Presse (Deut¬
sches Volksblatt), der wiederum nur möglich war, weil die in
den Skandal verwickelte ,,verjudete“ Baugesellschaft und ih¬
re Subunternehmer von der Behörde nicht zur Verantwortung
gezogen wurden, jedoch die Tatsache, daß durch jüdische Un¬
ternehmen Arbeiter menschenunwürdig hausen mußten, weid¬
lich ausgeschlachtet wurde.
Die Sozialreportagen von Max Winter („Kanalstrotter“,
„Zinsburgen und Chaluppen“, „Das Donauufer als Kinder¬
spielplatz“, „Eine Nacht im Asyl für Obdachlose‘“, „Im Zeichen
der roten Laterne“) erschienen auch in Buchform. „Im dun¬
kelsten Wien“ (1904), „Im unterirdischen Wien“ (1905), „Das
goldene Wiener Herz“ (1905) und „Höhlenbewohner in Wien“
(1927) — Kramer wird diese rezipiert und darin für seine eige¬
nen Beobachtungen unterstützendes Material gefunden ha¬
ben. Der große Eindruck, den Menschen in ihren sozialen Um¬
ständen aufihn gemacht haben, wird im Gedicht zutiefst emp¬
fundene Realität. Was in „Die Gaunerzinke“ (1929) zur Spra¬
che gebracht wird, entspringt nicht zuletzt der eigenen An¬
schauung. Kramers Bewegung ist das Gehen, während die Neu¬
gier und Anteilnahme ihn vorantreibt, umschreitet er langsam
das Äußere, dahinter läßt sich Geheimnisvolles, Verborgenes
entdecken.
Die Leopoldstadt und die angrenzende Brigittenau (seit 1900
ein eigener Bezirk Wiens) waren ganz arme Bezirke. Die isra¬
elitische Kultusgemeinde gibt für den Zeitraum von 1896-1914
an, daß 41 Prozent der ausgezahlten Armengelder an die in der
Leopoldstadt wohnenden Juden ausbezahlt wurden.
Es gab natürlich auch die Seite der eleganten und weniger
eleganten Kaffehäuser: Fetzer, Produktenbörse, Rembrandt, Ar¬
tistencafe, Cafe Stierböck oder das Amerikanische. Die Cafes
waren Wärm- und Lesestuben für die vornehmlich männlichen
Gäste, die in elenden Quartieren hausten, waren Wohnzimmer,
wo man beim Tarockieren den Alltag für ein paar Stunden ver¬
gaß. Und selbstverständlich Informationszentrum und Ge¬
schäftslokal.
Die ganze Umstellung, die Trennung von der Mutter, die
neue Schule und unter die Obhut des älteren Bruders Richard
gestellt zu sein, der doch erst 16 Jahre zählte, aber schon an¬
dere Interessen hatte, muß dem Elfjährigen sehr zugesetzt ha¬
ben. Ein Kind und ein Jugendlicher, die mehr oder weniger al¬
lein in Untermiete sich durchzubringen hatten, wobei eine
Mahlzeit im Untermietsverhältnis inkludiert war. Theodor er¬
krankte gleich nach dem Schuleintritt schwer und wurde in
häusliche Pflege nach Niederhollabrunn gebracht. In dieser Kri¬
se, erinnert sich Kramer, die ersten Gedichte gereimt zu haben,
die die Mutter aufgeschrieben haben soll.
Bis zur Matura, 8. Juli 1914, weisen die Meldezettel neun
Wohnadtessen in der Leopoldstadt aus, wobei die Kramer-Brü¬
der allein 1908/09 dreimal im gleichen Haus, Am Tabor 22, um¬
zogen (heute ist an dem Haus eine Gedenktafel für Theodor
Kramer angebracht). Es gab wohl Unstimmigkeiten mit den
QuartiergeberInnen, vielleicht auch disziplinäre Verhaltens¬
vorschriften. Diese häufigen Umzüge dürften ein Gefühl von
Unbehaustheit im jungen Theodor Kramer hinterlassen haben.
Im englischen Exil, vor allem in seinem ersten Jahr als Bi¬
bliothekar in Guildford, holten ihn diese frühen Erfahrungen
der Wiener Jahre wieder ein. Er sah sich in großer Abhängig¬
keit von den Vermieterinnen und deren tyrannischen Vor¬
schriften oft ohnmächtig ausgesetzt. (Vgl. S. Bolbecher: „Die
girls borgten lauter gute Bücher aus, ich glaube, ich mache So¬
zialisten aus ihnen.“ Th. Kramer im Briefwechsel mit Grete
Oplatek 1942-1946. In: Chronist seiner Zeit— Theodor Kramer.
Hg. von H. Staud und J. Thunecke. Wien 2000, 153 u. 163).
In der neuen Schule in der Vereinsgasse war ein relativ ho¬
her Anteil jüdischer Schüler; antisemitische Vorfälle scheint es
nicht gegeben zu haben. Dennoch spricht Kramer wiederholt
von der „bösartigen Realschule“. Es war wohl der falsche
Schultypus, mit einem großen Pensum in den Fächern Dar¬
stellender Geometrie, Mathematik und Physik. Kramers Talente
und Interessen lagen jedoch auf musischem und sprachlichem
Gebiet. Im Schuljahresbericht seines Maturajahres steht bei Be¬
rufsrichtung Th. Kramer: Philosophie. Damit stand er allein un¬
ter den 43 Abiturienten, die u.a. Handelsbeamte, Techniker oder
Tierärzte werden wollten. (44. Jahres-Bericht der k.k. I. Staats¬
realschule im II.Bezirke Wien. Schuljahr 1914-1915, S. 54f.)
Es waren schwierige und unbeständige, aber auch rebellische
Jahre. Beide Brüder waren dichterisch begabt und gesell¬
schaftskritisch motiviert, wobei der ältere Richard wohl den Ton
vorgab. 1913 schlossen sich die Kramer-Brüder der neuen Ju¬
gendbewegung an, die für eine Erneuerung des Schulwesens