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eintrat, besonders die autoritär verzopfte Gymnasialbildung verändern wollte. Diese Jugend glaubte nicht mehr an die Ideale der Vätergeneration und rebellierte gegen eine vorbestimmte Zukunft in sicheren Berufen. Es war eine vornehmlich jüdischintellektuelle Bewegung, die unter der Leitung des späteren Psychoanalytikers Siegfried Bernfeld ihr Organ Der Anfang. Zeitschrift der Jugend herausgab. Theodor Kramer schickte an Siegfried Bernfeld eine Reihe von Gedichten, von denen aber keines im „Anfang“ veröffentlicht wurde. (Vgl. E. Chvojka, K. Kaiser: Vielleicht hab ich es leicht, weil schwer, gehabt. Theodor Kramer 1897 — 1958. Eine Lebenschronik). Aus dieser Zeit sind erste Gedichte Kramers überliefert, die vom Tod, vom Sterben, von der Aussichtslosigkeit der Jugend handeln und einiges von der gedrückten Stimmung am Vorabend des Ersten Weltkrieges widerspiegeln. Sie sind in den letzten Schuljahren entstanden und unveröffentlicht). Der Scherbenkönig (Liedel) Auf und davon im Sausetrab! Dem jungen Werk ein frühes Grab. Hurrah, wie schön ist Sterben! Nachts schnall ich meinen Sack herab Und greife kosend in das Grab, Ich, der König der Scherben. Wenn ich mir meine Form erschuf, Erklang bei Tag ein neuer Ruf; Hurrah, wie schön ist Sterben! Dann schleudre ich das spröde Pack Hinein in meinen Mantelsack Und reite es zu Scherben. Ich reite meinen süßen Schatz, Es hat noch vieles drinnen Platz; Hurrah, wie schön ist Sterben! Ich kose ihn in tiefster Stund Und kose mir die Finger wund, Ich, der König der Scherben. In sein erstes Buch, notierte die Mutter, wollte er auf die erste Seite setzen lassen: Meinem Leser Unterscheiden, ohne dich zu scheiden, der du traurig, ohne selbst zu leiden dies geniesst: dich hab’ ich nicht gesucht. dunkler, feiger Schuft, sei drum verflucht! Sehr selbstbewußt verfährt der junge Dichter mit dem Voyeur am Leid, der aus gesicherter Position sich dem „Weltschmerz“ hinzugeben wünscht oder der bloß Nahrung für Mitleid aus Selbstgefälligkeit sucht. Seine Worte sollen eine ehrliche und tätige Gemeinschaft schaffen. Um 1919 lebten 60.000 Juden im II. Bezirk, fast die Hälfte der Leopoldstädter Bevölkerung; der größte jüdische Wohnbezirk Wiens. Das heißt nicht, daß offene Progromaufrufe nicht auch zum Alltag gehörten. Der „Deutschösterreichische Schutzverein Antisemitenbund‘“ ermunterte in seinen Kundgebungen offen dazu, auf die jüdische Bevölkerung loszuschlagen. Trotz Optionsrecht für die Republik Deutsch-Österreich gab der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich (NO) Albert Sever — die Trennung von Wien und NO war noch nicht vollzogen — 1919 dem Druck der rabiaten deutsch40 nationalen Stimmung nach durch den Erlaß, illegale Flüchtlinge in ihre Heimatgemeinden (die nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie nun im Ausland lagen) abzuschieben, was in der Praxis nicht durchführbar war. Der Erlaß richtete sich tendenziell gegen die nach Wien geflüchteten Ostjuden aus Polen und der Sowjetunion, aber signalisierte auch den politischen Flüchtlingen aus Ungarn (nach der Niederschlagung der Räterepublik) ihr bloßes Geduldetsein. Um Aufhetzung der nichtjüdischen, ebenfalls armen Bevölkerung gegen ihre Nachbarn und Provokationen waren Völkische eifrig bemüht. 1925, bei einer Kundgebung von Sozialisten und Kommunisten gegen solche Agitationen, erstach ein polizeibekannter Gewalttäter, der sich unter die Demonstranten gemischt hatte, den Deutschnationalen Josef Mohapl. Die Tragödie wurde in den rechten Zeitungen unter „Christenprogrom in der Leopoldstadt“ skandalisiert. In dem Zyklus „Die Pest‘ (von 1925) bezieht sich Theodor Kramer auf die lange Tradition des christlichen Antisemitismus mit seinen Legenden von Hostienschändungen und den damit gerechtfertigten Pogromen. In den Jahren der Pestseuche 1348/ 49 blieben, im Gegensatz zu ihren Glaubensbrüdern in deutschen Ländern, die Wiener Juden vor Austreibung verschont. (Albrecht II., der „Judenknecht“, verhinderte dies mit Waffengewalt. Seine Beweggründe waren finanzieller Natur, brachte ihm doch die jüdische Gemeinde Sondersteuern ein. In Wiener Sagenbüchern kann man nachlesen, welche Sündenbockfunktion die jüdische Bevölkerung erfüllte.) 1679 forderte eine weitere große Pestepedemie allein in Wien 12.000 Opfer. Kramer verwendet „Pest“ im übertragenen Sinn, symbolisch. Die Pest, eine den Zeitgenossen unbekannte, neue Seuche, die ihre Ursache und Verbreitung in den unhygienischen Lebensumständen der spätmittelalterlichen Städte hatte, wird zur Metapher für christlichen Aberglauben, für die erbitterte Gegnerschaft zur Aufklärung und für die politisch bewußt eingesetzte Preisgabe der Juden. In der Ballade, die in zehn Abschnitte zu je drei Stophen gegliedert ist, beschreibt Kramer den hilflosen Schrecken und das große Sterben. Die Jungen versuchen zu fliehen, die Zurückbleibenden verfallen in Gesetz- und Mitleidslosigkeit; sie rauben und morden. Priester versehen ihre Aufgaben nicht mehr und Nonnen vergessen in panischer Todesangst ihr Gelübde. Die hierarchische Ordnung der Gesellschaft zerfällt. Was hält dagegen stand? Kramer knüpft an die legendäre dionysische Figur des Spielmanns Augustin an — der keine Furcht vor der Pest kennt und weiter trinkt, bis zum letzten Heller, singt „Oh Du lieber Augustin, alles ist hin“ und so die schlimme Zeit unbeschadet übersteht. Zugleich eine befreiende, wollüstige Zeit, „Tilgerin von Standesgrenzen“: Von fernher knattert grau die Synagoge, in der die Judenschar sich selbst verbrennt. [..J Jach tanzen zu des Todes rostiger Hippe Graf, Kardinal, Vagant und Lanzenknecht, zerbrechen ohne Messe, nur Gerippe, das Mosaik aus abgestuftem Recht. [...J Verbannte kommen aus den stummen Forsten, zu stetem Werk und Friedlichkeit bereit. Und die Schlußzeilen lauten dann: Im eigenen Reichtum schlicht und unvermittelt steht groß der neue Mensch vor seinem Gott. (Th. Kramer: Die Pest. In: Gesammelte Gedichte 2. Hg. von E. Chvojka. Wien 1985).