Alexander Emanuely
„Kleiner Joseph“
Der Aphoristiker Elazar Benyoétz
„Kleiner Joseph“ sagt Else Lasker-Schüler zum bunt angezogenen
Buben, der vor ihr steht, vielleicht sieben, acht Jahre alt und somit
als etwas zu jung scheint, um Teil ihres Publikums zu sein. Dieser
wiederum hält die Dichterin, natürlich ohne es ihr zu sagen, für
eine Hexe und ist noch ganz ergriffen von der Magie der eben
erlebten Lesung, die vermutlich einer ihrer letzten Auftritte vor
ihrem Tod 1945 sein wird. Der Junge heißt Paul Koppel und soll
als Elazar Benyoetz einige Jahrzehnte später selbst ein Dichter, ein
berühmter israelischer Aphoristiker werden. Und als Israeli wird er
auf Deutsch schreiben, in der Sprache von Else Lasker-Schüler, in
einer Sprache, die er Mitte der 1940er Jahre als „kleiner Landstrei¬
cher“ in Tel Aviv eigentlich noch nicht wirklich versteht, obwohl
sie jene seiner Kindheit, seine „Vatersprache“ ist.
„Ungewiss ist auch/ Unsere Vergangenheit“
Benyoétz einmal und zeichnet mit Paul Koppel. Er wird am 24.
März 1937, fast genau ein Jahr vor dem „Anschluss“, in Wiener
Neustadt geboren. Und Ende Dezember 1939 kann er mit seinen
Eltern Gottlieb und Else Koppel und seiner Schwester Ruth ins
damalige Völkerbundmandat Palästina, nach Tel Aviv entkommen.
Mit seinem Vater spricht er deutsch, die Mutter spricht schon Jvrit,
singt aber ihre Kinder mit deutschen und ungarischen Wiegen¬
liedern in den Schlaf. Der Vater nimmt einen neuen Vornamen
an und nennt sich nun statt Gottlieb Yoétz, was auf Hebräisch
Ratgeber bedeutet. Ben-Yoätz heißt somit nichts anderes, als Sohn
des Ratgebers. Elazar wiederum heißt „Gott hat geholfen“. Als Ela¬
zar Benyoätz sechs Jahre alt wird, stirbt der Vater, und dann „war
die Bahn frei sozusagen für das Hebräische“?. Die Muttersprache
wird nun /vrit, die Vatersprache bleibt Deutsch. Die Straße wird für
den Buben die Schule, doch viel erfährt man nicht aus dieser Zeit,
außer in Interviews, denn „niemand würde aus meinen Texten ent¬
nehmen, dass ich in Tel Aviv fast geboren und daselbst Strand- und
Straßenkind war.“?
Als Elazar Benyoétz neun Jahre alt wird, heiratet seine Mutter Ben¬
zion Gottlieb, der „ziemlich direkt nach Auschwitz zu uns kam“.
Diese „vielleicht wichtigste Person in meinem Leben“, wie Elazar
Benyoétz 2001 in einer Sendung des Südwestdeuteschen Rund¬
funks 2 sagen wird, wollte ursprünglich ein „moderner Rabbiner
mitteleuropäischen Stils“‘ werden. Nach anfänglichen Studien in
der Jeschiva des ultra-orthodoxen Rabbi Dushinsky in der Slowa¬
kei und in Transkarpatien, zog Benzion Gottlieb darum auf eigene
Faust nach Hamburg, wo er weitere Talmudstudien absolvierte,
nebenbei jedoch sein Abitur machte, um anschließend Physik und
Chemie studieren zu können. Seine erste Frau und seine Kinder,
ein Mädchen und ein Junge, mit denen er bis zur Deportation in
Bratislava gelebt hatte, wurden in Auschwitz ermordet. Hätten
die Kinder überlebt, wären sie im gleichen Alter wie Ruth und
Elazar gewesen.
Benzion Gottlieb setzt somit 1946 in Tel Aviv mit seiner neuen
Familie „die Geschichte fort, [...] wie wenn er seine Lebensge¬
schichte fortführe.“ Sind die beiden Kinder plötzlich „Lebende
Gedenkkerzen“? Unbewusst Ersatz für die Ermordeten? Weil nicht
die eigenen Kinder, wohl nicht ganz, aber trotzdem irgendwie,
wohl auch mit all den Konsequenzen, die eine solche Projektion
mit sich bringt.
Benzion Gottliebs Muttersprache ist Deutsch, wenngleich er
auch Jiddisch und Ungarisch kann. Er spricht immer mit grö߬
ter Hochachtung von der „deutschen Kultur“ und verteidigt sie
„bis aufs Blut [...], auch nach seiner Rückkehr aus Auschwitz“,
was Elazar Benyoätz „verblüffte“. Benzion Gottlieb ist jedenfalls
in „deutscher klassischer und moderner Literatur bewandert“.°
Seine Liebe zur Literatur gibt er seinen „neuen“ Kindern wei¬
ter. Davon zeugt u.a. eine Korrespondenz Benzion Gottliebs mit
Ruth Koppel aus dem Jahr 1957, in der ausführlich über Goe¬
thes Faust diskutiert wird. Wohl hat er ihnen auch sein modern¬
orthodoxes Verständnis der Religion vermittelt, denn der junge
Elazar studiert schließlich gleichfalls in einer Jeschiva, vielleicht
mit dem Ziel ein moderner Rabbiner im israelischen Stil zu wer¬
den.
Zuerst erfolgen Rabbinatsstudien in der religiös-zionistisch
orientierten, eben erst im Sinne des Rabbiners Hacohen Kook
gegründeten Jeschiva der Bnei Akiva in Haroe, nördlich von Tel
Aviv. Wie heute auf der Webseite dieser für Israel wichtigen Bil¬
dungsinstitution nachzulesen ist, will die Bnei Akiva als Organi¬
sation eine religiöse Elite für ein modernes Israel erziehen:
[...] to seek to train Israels next generation of leaders, steeped in
Jewish learning while totally involved in modern Israeli society.
(http://www.afyba. org/)
Rabbi Akiva, nach dem Organisation und Jeschiva benannt
wurden — Bnei Akiva heißt übersetzt „Kinder Akibas“ — ist um
135 u.Z. während des Bar-Kochba-Aufstandes von den Römern
hingerichtet worden. Zu seinen Lebzeiten, als viele Juden und
Jüdinnen von den Römern aus Israel vertrieben wurden, war er
der erste Sammler und Editor der Mischna, somit in einem ge¬
wissen Sinne, wie Elazar Benyo&tz Jahrhunderte später, in Zeiten
der Verfolgung und Vernichtung Bewahrer jüdischer Schrift vor
dem Verschwinden. Diesem wichtigen Mitbegründer des rabbi¬
nischen Judentums, der gleichzeitig auch politische Funktionen
als Botschafter in Rom innehatte, ist auch zu verdanken, dass das
Hohelied Salomons in den Tanach, die heiligen Schriften aufge¬
nommen wurde. Und die Schriften des Königs Salomon spie¬
len für Elazar Benyoetz und die Anfänge seines Schreibens eine
gewichtige Rolle. Es sei auch erwähnt, dass die alte Jeschiva des
Stiefvaters 1930 von Europa nach Jerusalem übersiedelt war, nun
dort als Mittelpunkt der ungarischen Chassidim gilt, und Rabbi
Dushinsky als Gegner des Staates Israel sogar bei den Vereinten
Nationen auftritt. Es gibt somit unter den Jeschivas kaum gegen¬
sätzlichere als jenen der Bnei Akiva und des Rav Dushinsky.
Zudem studiert Elazar Benyoätz an der Hebrew University in
Jerusalem Literatur und Pädagogik. 1957, während seines Mili¬
tärdienstes, erscheint sein erster Gedichtband in /vrit, dem sechs
weitere folgen. Über die Anfänge seiner literarischen Arbeit, die