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Georg Pichler Eingesperrt und ausgeschlossen Michel Grasa, der Biirgermeister von Le Vernet d‘Ariége, war gerade zehn Monate alt, als seine Mutter mit ihm im Spätwinter 1939 nach Frankreich floh. Die beiden kamen, wie zehntausende andere Flüchtlinge der Spanischen Republik, in das grenznahe Lager Argeles-sur-mer, wo der Säugling aufgrund der prekären Umstäde beinahe gestorben wäre. Nach der ersten Zeit im Lager fanden seine Eltern Arbeit, Michel Grasa blieb in Frankreich. Er ging in die Schule, begann selbst zu arbeiten, betätigte sich in der Gewerkschaft, wechselte immer wieder seinen Wohnsitz und seine Arbeitsstelle. Jung heiratete er eine Französin, und als Anfang der sechziger Jahre seine Tochter geboren wurde, wollte er auch Franzose werden. Er füllte die entsprechenden Anträge aus und wurde tatsächlich nach einiger Zeit vorgeladen. Die Unterlagen seien in Ordnung, meinte der zuständige Beamte, doch habe er angegeben, er wäre nach seiner Ankunft in Frankreich in ein Konzentrationslager gekommen. Diese Lager seien keine Konzentrationslager gewesen, sondern camps d accueil, Auffanglager, wurde er belehrt, in Frankreich hätte es nie Konzentrationslager gegeben. Würde er dieses Wort ändern, stünde seiner französischen Staatsbürgerschaft nichts im Weg. Doch Michel Grasa wollte das Wort nicht ändern, er beharrte darauf, es seien Konzentrationslager gewesen, nicht nur in der damaligen Terminologie, sondern auch in ihrem Wesen: Man habe die Menschen dort unter miserablen Bedingungen zusammengepfercht. Nach acht Jahren schließlich, in denen er mehrmals vorgeladen und immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass nur das Wort Konzentrationslager seine Einbürgerung hinauszögere, erhielt er die französische Staatsbürgerschaft und mit ihr das Recht, in seinem Lebenslauf offiziell das Wort „Konzentrationslager“ zu führen. Nach seiner Pensionierung ließ sich Michel Grasa im südfranzösischen Le Vernet nieder, keine hundert Kilometer von Spanien entfernt. Seit 2007 ist er Bürgermeister des kleinen Ortes, länger schon Vorstandsmitglied der Arnicale des anciens internes du Camp du Vernet dAriege. Und er betreut das kleine Museum am Hauptplatz, gleich neben der mairie, das an eines der strengsten und berüchtigtsten Lager der späten dreißiger und vierziger Jahre erinnern soll, an das Straflager von Le Vernet. Die Lager Sieht man sich die historischen Dokumente genauer an, so hätten die französischen Behörden Michel Grasa die Staatsbürgerschaft bereits beim ersten Ansuchen bewilligen müssen. Denn sowohl die exilierten Flüchtlinge aller Nationen als auch die französischen Behörden selbst sprachen zumeist von Konzentrationslagern. Die Zeitung L Humanite denunziert etwa am 16. Februar 1939 „den widerwärtigen Skandal der Konzentrationslager“.! Der Schriftsteller Max Aub verwendet diesen Ausdruck in seinem Buch Campo francés konsequent, wenn er die verschiedenen Lager erwähnt: »Actualidades francesas: Campos de Concentracién: Vistas de Argelés, Septfonds, Saint Cyprien, Gurs, Vernet“?. Auch in den Aufzeichnungen deutschsprachiger Autoren aus ihren französischen 22 _ ZWISCHENWELT Exiljahren kommt das Wort immer wieder vor. Lion Feuchtwanger spricht in seinem „Bericht“ Der Teufel in Frankreich aus dem Jahr 1940 ebenso von einem französischen „Konzentrationslager“ wie es Alfred Kantorowicz in seinen Erinnerungen aus dem Exil in Frankreich tut.2 Soma Morgenstern stellt in seinem autobiographischen Roman Flucht in Frankreich den Protagonisten gleich auf der ersten Seite als „einen aus dem Konzentrationslager in Finistere entlaufene[n] Österreicher“ vor. Und eine der besten Kennerinnen des spanischen Exils in Frankreich, die französische Historikerin Geneviéve Dreyfus-Armand, stellt unumwunden fest: „Der Begriff ‚Konzentrationslager‘ wird in den zeitgenössischen Dokumenten immer wieder verwendet.“ Doch aufgrund des Holocaust hat sich in den Jahren danach das Bild des Konzentrationslagers einschneidend geändert. Um jegliche Assoziationen zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern zu unterbinden, sprach man fortan nur noch von neutral von camps, Lagern. Es ist kaum bekannt, dass der Begriff Konzentrationslager aus dem Spanischen stammt und erstmals 1896 im kubanischen Unabhängigkeitskampf vom damaligen Gouverneur der Insel, dem General Valeriano Weyler y Nicolau, verwendet wurde, um an die 400.000 „Greise, Frauen und Kinder“ in campos, Lagern, zu „rekonzentrieren“ (reconcentrar). Vier Jahre später übernahmen die damaligen US-amerikanischen Feinde in einer anderen ehemaligen spanischen Kolonie die Erfindung Weylers und richteten auf der Philippineninsel Mindanao ein Konzentrationslager ein. Diese Methode zur Festsetzung der Zivilbevölkerung adaptierten noch im selben Jahr, also 1900, die britischen Truppen in Südafrika. Zwischen 120.000 und 160.000 Buren, wiederum vor allem Frauen, Greise und Kinder, wurden festgenommen, von denen aufgrund der unmenschlichen Bedingungen mehr als 20.000 starben. Ende der zwanziger Jahre begann das sowjetische Russland mit dem Bau der sogenannten Konzlager, und auch das nationalsozialsozialistische Deutschland errichtete bald nach der Machtergreifung Hitlers 1933 die ersten KZs. Im austrofaschistischen Österreich war man euphemistischer, hier sprach man von „Anhaltelagern“, in denen ab 1933 sowohl Nationalsozialisten als auch Sozialdemokraten und Kommunisten festgehalten wurden. Diese Lager dienten vor allem zur Festnahme interner politischer Gegner, sie waren noch keine Vernichtungslager. Insofern war im damaligen Sprachgebrauch das Wort Konzentrationslager zwar eindeutig negativ besetzt, da in den französischen Lagern angeblich vor allem politische Gegner oder die Staatssicherheit gefährdende Fxilanten festgehalten wurden, es hatte aber noch nicht den Beiklang von Auschwitz und Birkenau oder des Gulags, den es erst nach dem Zweiten Weltkrieg bekam. In Frankreich gab es drei Arten von Internierungslagern.’ Für die große Masse der politisch eher unverdächtigen Flüchtlinge aus Spanien oder den mitteleuropäischen Ländern wurden, meist rasch und improvisiert, Lager errichtet, die euphemistisch camps de rassemblement (Sammellager), centres d'herbergement (Beherbergungslager) oder camps daccueil (Auffanglager) genannt wurden. Die Zustände in ihnen waren zwar prekär, da es an hygienischen Einrichtungen und an medizinischer Versorgung mangelte, doch kam es generell