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Ebenso wie Aubs Buch handelt es sich um ein chorales Werk, in dem unzählige Stimmen versammelt sind, die in ihrer Zusammenschau ein umfassendes, subjektives, oft widersprüchliches Bild ergeben, das das Exil in all seinen Dimensionen zeigt. Das Straflager Le Vernet, das, wie bereits angedeutet, das härteste aller Lager war, steht im Mittelpunkt von Bruno Freis autobiographischem Tatsachenbericht Die Männer von Verne‘. Bruno Frei war Funktionär der österreichischen KP, und als solcher sicher nicht der objektivste Berichterstatter in politischen Belangen. Spätere Renegaten wie Gustav Regler und Arthur Koestler, die aus Le Vernet in andere Länder emigrieren konnten, kommen bei ihm denkbar schlecht weg, und auch die Beschreibung der politischen Situation deckt sich allzu oft mit der Linie der Kommunistischen Partei. Dennoch gibt das Buch anschaulich Auskunft über den zähen Alltag und die elenden Zustände im Lager, die miserable Behandlung durch dir französischen Behörden und die Lage der Gefangenen aus vielen Nationen, die untätig im Lager festsaßen, während der Zweite Weltkrieg tobte und die deutschen Truppen Frankreich überrollten. Autobiographischen Ursprung hat auch „An uns glaubt Gott nicht mehr“, der erste Teil der Trilogie Wohin und zurück von Georg Stefan TIroller.”” In diesem Drehbuch zum gleichnamigen Film Axel Cortis (1982), schildert Troller das Schicksal österreichischer Emigranten, die in Paris festgenommen werden und in ein Lager im Nordwesten Frankreichs kommen. Aufgrund seines Genres ist die Darstellung des Lagerlebens eher knapp gehalten und auf die wichtigsten Stationen des Aufenthalts zugespitzt. Viel ausführlicher sind die langen Schilderungen aus französischen Lagern, die von zwei anderen österreichischen Autoren stammen. Bei beiden Texten handelt es sich um autobiographisch inspirierte Romane, die aus einer schelmenhaften Perspektive über die Jahre des Exils in Frankreich berichten. Soma Morgenstern erzählt in Flucht in Frankreich über seine Zeit in Paris, seine Festnahme und seine Lagerhaft in Audierne in der Provinz Finistére, im äußersten Nordwesten Frankreichs. Und Albert Drach schildert in Unsentimentale Reise seine Abenteuer in den Lagern Les Milles und Rivesaltes. Beide versuchen, der bedrohlichen Situation humoristische Aspekte abzugewinnen, jedoch ohne damit den Ernst der Sache überspielen zu wollen.‘ Alles andere als humoristisch ist eines der wenigen Gedichte über die französischen Lager. Das Gedicht „Gurs“ stammt von dem Arbeiterschriftsteller Adolf Unger, der 1942 von Rivesaltes nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde, und vermittelt in seiner verhaltenen Hoffnungslosigkeit eine Ahnung vom Leid all jener, die aus den Lagern nicht vor den Nationalsozialisten fliehen konnten: Sie liegen wie Klötze aus Schlamm, Auf Säcken mit Stroh gefüllt. Gegen ihr Leid ist kein Damm Gebaut, Not wird nicht gestillt. Sie hoffen und beten nicht mehr. So liegen und warten sie auch. Ihr Leben ist schal und leer, Ein Nichts, ein Hauch. Manchmal schrecken sie auf, Gedrückt vom Alb der Nacht. So liegen sie da, zu Hauf. Was hat man aus ihnen gemacht.” 26 _ ZWISCHENWELT Als dieses Lager Gurs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfiel, pflanzten die Bewohner des Ortes an seiner Stelle 1950 einen Wald, „damit man das Lager ein wenig vergisst, um eine Schicht Vergessen darüberzustreichen ...“°°, wie der Vorsitzende der Amicale de Gurs, Emilio Valles, meinte. Statt Gras ließ man gleich einen ganzen Wald über die Erinnerung wachsen. Doch ist dieser Wald für die Erinnerung durchlässig geworden, denn in den letzten Jahrzehnten wurde eine Gedenkstätte errichtet, man kann Repliken der ehemaligen Baracken besichtigen und den Friedhof besuchen, auf dem die 1.073 begraben liegen, die im Lager gestorben sind, vor allem deutsche Juden aus Baden und der Pfalz. In Le Vernet ist jetzt dort, wo einst die Wachen am Eingang des Lagers standen, ganz in der Nähe der Baracke, in der Max Aub sein Dasein fristen musste, ein großes Schild zu sehen, das die landwirtschaftlichen Produkte einer Familie mit dem zutiefst katalanischen Namen Pujo/ anpreist. Argelés-sur-mer ist heute eine Sommerfrische. Umgeben von Hotels und Appartements erinnert am Rand eines Pinienwaldchens eine kleine Stele an die 100.000 Spanier, die an diesem Ort einst ihr Dasein fristen mussten. Die mehr als 100 Lager waren in Frankreich ein lange Zeit kaum wahrgenommener Bestandteil des Alltags, von dem man nicht viel wissen wollte. Dank der Arbeit von Menschen wie Michel Grasa wird dieser nicht sehr ruhmreiche Abschnitt der französischen Geschichte seit einigen Jahren wieder in Erinnerung gerufen. Doch ist noch viel zu tun, damit diese Geschichten in der kollektiven Erinnerung den Platz einnehmen, der ihnen zusteht, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Spanien und in Österreich. Anmerkungen 1 Zit. nach Genevieve Dreyfus-Armand: EI exilio de los republicanos espafioles en Francia. De la guerra civil a la muerte de Franco. Aus dem Franzésischen von Dolors Poch. Barcelona: Critica 2000, 70. — Alle spanischen Texte wurden vom Verf. ins Deutsche übersetzt. 2 „Neuigkeiten aus Frankreich: Konzentrationslager: Ansichten von Argeles, Septfonds, Saint Cyprien, Gurs, Vernet.“ Max Aub: Campo francés. Hg. von Valeria de Marco. Madrid: Castalia 2008, 121. 3 Lion Feuchtwanger: Der Teufel in Frankreich. Erlebnisse. Tagebuch 1940. Briefe. Berlin: Aufbau Taschenbuch ?2005, 22; Alfred Kantorowicz: Exil in Frankreich. Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten. Frankfurt/M.: Fischer 1986, 73, 168. 4 Soma Morgenstern: Flucht in Frankreich. Ein Romanbericht. Hg. und mit einem Nachwort von Ingolf Schulte. Lüneburg: zu Klampen 1998, 9. 5 Genevieve Dreyfus-Armand: El exilio republicano en Francia. In: Virgilio Zapatero (Hg.): Exilio. Catälogo de la Exposiciön del Palacio de Cristal del Parque del Retiro de Madrid, 17 de septiembre a 28 de octubre de 2002. Madrid: Fundaciön Pablo Iglesias 2002, 178-193, hier 181. Vgl. dazu auch Gilbert Badia: Deutsche und österreichische Emigranten in Frankreich 1933-1945. In: Anne Saint Sauveur-Henn (ed.): Zweimal verjagt. Die Deutschsprachige Emigration und der Fluchtweg Frankreich-Lateinamerika 1933-1945. Berlin: Metropol 1998, 16-33, hier 21 und 24. 6 Andrzej J. Kamiriski: Konzentrationslager 1896 bis heute. Eine Analyse. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1982, 34. — Wie wenig bekannt der spanische Ursprung des Begriffs ist, zeigt sich etwa in dem durchaus fundierten Artikel von Annette Wieviorka, der mit den südafrikanischen Lagern beginnt und seine Vorfahren nicht erwähnt: A. Wieviorka: L‘expression „camp de concentration“ au 20e siecle. In: Vingtiéme Siécle. Revue d‘histoire 54 (1997), Nr. 1, 4-12. 7 Vgl. dazu Denis Peschanski: La France des camps. L‘internement, 19381946. Paris: Gallimart 2002; Barbara Vormeier: Die Lage der deutschen Flüchtlinge in Frankreich. September 1939-Juli 1942. In: Jacques Grand