OCR
Dusan Necak Der Putschversuch der SS-Standarte 89 im Juli 1934 ist in der österreichischen Geschichtsschreibung auch in den Details bereits gut aufgearbeitet. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass einige Tausend Putschisten spontan über die österreichische Südgrenze nach Jugoslawien flohen, wo sie sowohl von den jugoslawischen Behörden als auch von der ansässigen deutschen Minderheit freundlich empfangen wurden. Wo Polizei und Heimwehr von Anfang an entschlossen und organisiert auftraten, waren die Nazis zur umgehenden Flucht gezwungen. Die ersten überquerten die österreichisch-jugoslawische Grenze offenbar schon am 26. Juli 1934, laut „Mariborer Zeitung“, dem Organ der Deutschen in Maribor, insgesamt 85 Personen, darunter vier Frauen, die in Gruppen von 10 bis 15 Personen über die Murbrücke von Radkersburg (Radgona) nach Gornja Radgona geflohen waren; die jugoslawische Gendarmerie habe die Flüchtlinge in Empfang genommen und in der Volksschule einquartiert; nur eine Einheit habe bewaffnet jugoslawischen Boden betreten, hier aber selbst die Waffen niedergelegt.’ In einem Telegramm des deutschen Generalkonsulats in Zagreb an das Außenministerium in Berlin vom 28. Juli ist von fünf Reichsdeutschen und 112 österreichischen Staatsbürgern die Rede, die die Grenze in Radlje (Marenberg) westlich von Maribor überschritten hätten.” Das Gendarmeriekommando in Windisch Bleiberg/Slovenj Plajberk wiederum berichtete den übergeordneten Organen, dass in der Nacht vom 28. zum 29. sowie vom 29. zum 30. Juli an die hundert teilweise bewaffnete Nazis von Kärnten über die Zelenica, den Barensattel/Medvedjak, die Skarbina/Skrbina und den Kahlkogel/Golica nach Jugoslawien gelangt seien.4 Am 30. Juli berichtete die jugoslawische Gesandtschaft in Berlin bereits von 700 österreichischen Flüchtlingen, die zwischen Maribor und Dravograd über die Grenze gekommen und die interniert worden seien. Dieser Bericht galt nicht der Information der deutschen Öffentlichkeit, sondern war Teil einer Erklärung der jugoslawischen Regierung, mit der sie Italien aufmerksam machte, sich nicht in die österreichischen Angelegenheiten einzumischen (Italien hielt an der Grenze zu Österreich umfangreiche Manöver ab). Sie gab damit auch zu verstehen, dass sich Jugoslawien nicht in die österreichischen Angelegenheiten einmischen würde, weil in dieser Frage einzig der Völkerbund zuständig sei; jegliche einseitige Maßnahme oder Intervention würde eine Verletzung der Friedensverträge bedeuten und könnte weitere Folgen nach sich ziehen.’ Das deutsche Konsulat in Zagreb ging am 30. Juli (einige deutsche Staatsbürger eingerechnet) von mehr als 300 Flüchtlingen aus, die in Bjelovar interniert worden seien, und erwarte die Ankunft weiterer 400 Nazis, die noch im Kärntner Lavanttal kämpften.° In der Sitzung des österreichischen Ministerrats desselben Tages berichtete der Staatssekretär für Sicherheitsangelegenheiten Carl Karwinsky, dass die letzten Reste der Putschisten die jugoslawische Grenze bei Lavamünd/Labot überschritten hätten. Es soll um eine Gruppe von 500 Personen gegangen sein, die sich auf etwa 150 reduziert habe. Was mit den anderen geschehen ist, erfahren wir nicht.” 40 ZWISCHENWELT Am 2. August meldete das deutsche Konsulat in Zagreb nach Berlin, dass laut Zeitungsberichten im Lager Varazdin 541, im Lager Bjelovar 581 und im Lager Slavonska PoZega 173 Flüchtlinge interniert seien, zusammen 1.295, darunter 15-20 Reichsdeutsche, von denen drei bereits den „dringenden Wunsch“ an das Konsulat gerichtet hätten, aus dem Lager entlassen und nach Deutschland gebracht zu werden.® Aus einem telegraphischen Bericht des deutschen Gesandten in Belgrad vom 6. August geht hervor, dass von 19 internierten Deutschen bereits 12 entlassen worden waren. Sie wurden vom Zagreber Konsulat mit guter Verpflegung über Ungarn und die Tschechoslowakei nach Deutschland geschickt. Man erwartete jeden Moment die Freilassung der übrigen sieben.? Nach deutschen Informationen wussten Anfang August 1934 aber weder die jugoslawischen Verwaltungs- noch die Polizeibehörden die genaue Zahl der Naziflüchtlinge aus Österreich. In den letzten Julitagen schätzten jugoslawische Beamte die Gesamtzahl der Flüchtlinge auf etwa 900.!° Auch die österreichische Seite verfügte über keine genaueren Daten. Ebenfalls auf der Grundlage von Presseberichten meldete der Geschäftsträger der österreichischen Gesandtschaft in Belgrad, Schmidt, an das österreichische Außenministerium, dass am 1. August in den Lagern Varazdin, Bjelovar und Slavonska Pozega insgesamt 1.001 Personen interniert gewesen seien. Ende August glaubten die österreichischen Polizeibehörden aus absolut zuverlässigen Quellen zu wissen, dass sich etwa 2.000 Naziflüchtlinge in Jugoslawien aufhielten.'!' In vertraulichen Berichten finden sich aber auch weit höhere als die offiziellen Angaben. Interessant ist, dass im Großteil der Fälle weder die jugoslawischen noch die österreichischen Behörden feststellen konnten, wer die Flüchtlinge waren, weil sich diese nicht identifizieren wollten. Die Berichte erwähnten jedoch, dass die Flüchtlinge zum Großteil „Grenzler“ aus Steiermark und Kärnten seien, meist aus dem Lavanttal und der Obersteiermark, und dass unter ihnen viele Studenten, Intellektuelle, Lehrer, Beamte, Bauern, ehemalige Gendarmen und Pastoren und sogar ein Staatsanwalt gewesen sei. Die österreichische Gesandtschaft war entgegen diesen Informationen überzeugt, dass es sich bei den Flüchtlingen fast ausschließlich um Arbeiter handelte.'? Über die Grenze wurden in den letzten Julitagen auch Verwundete gebracht, die schwerverwundeten Putschisten wurden aber sofort mit der Eisenbahn über Ungarn und die Tschechoslowakei nach Deutschland transportiert. In den ersten Tagen war es auch deshalb unmöglich, vollständigere Daten über die Zahl der Geflüchteten zu erhalten, weil sich ein Teil von ihnen frei im Draubanat bewegte. Etliche quartierten sich bei Verwandten und Bekannten in Maribor, Celje, Ptuj und entlang der Grenze ein, darunter zehn führende Putschisten. Gleich nach dem gescheiterten Putschversuch bildeten sich in den größeren Orten Sloweniens mit starkem deutschen Bevölkerungsanteil Komitees, die Flüchtlinge aufnahmen und die Kontakte zwischen ihnen und ihren Verwandten in Österreich, aber auch mit den dort gebliebenen Anführern des Putsches aufrechterhielten. Sie organisierten Geldsammlungen und andere Hilfsaktionen.