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Graz, den es heute nicht mehr gibt. Das heifst, man konnte ohne Pass in Klagenfurt einsteigen. In Marburg ist der Zug von Gendarmerie bewacht worden und Polizei. Man konnte also ohne Pass- und Zollkontrolle nach Graz bzw. Klagenfurt. Ich stieg in Klagenfurt in den Zug ein. Ich wusste natürlich, wenn es nicht gelingt, wenn ich in Marburg nicht herauskomme, bin ich unrettbar verloren, denn die Passkontrolle kannte mich — ich wurde ja schon gesucht. [...] In Marburg stehen diese Waggons — es sind nur zwei Waggons gewesen — cirka eineinhalb Stunden, und zwar im Winter. Es war der 15. Februar 1934. Ich habe geschaut und da ist der Posten — es war ein ganz grofser Waggon — immer auf und ab gegangen. Ich habe aufgepasst, bis er in der Mitte des Waggons war, dass er meinen Sprung nicht mehr hört. Die Tür sollte natürlich plombiert sein, aber das hat man nie mehr gemacht. Ich habe die Tür leise geöffnet und bin hinaus gesprungen® Willi Scholz begann in Marburg unverzüglich illegale Literatur — und zwar eine Postkarte mit dem Portrait von Koloman Wallisch — herzustellen.’ Am 27. März 1934 berichtete die Polizeiliche Expositur in Spielfeld an das Bundeskanzleramt in Wien, bisher 10.000 Stück in zwei Auflagen gedruckt dass wurden, die u.a. der bereits erwähnte ehemalige Bürger meister von Voitsberg, Hans Steiner, und der aus Graz geflohene Februarkämpfer Karl Wiesler zugunsten der sozialdemokratischen Flüchtlingshilfe, die zu diesem Zeitpunkt in Marburg über 20 Flüchtlinge zu betreuen hatte, um fünf Dinar verkauften. !" In der Folge gelangten noch weitere Karten, wie auch illegale Literatur der Sozialdemokratischen als auch der Kommunistischen Partei, in Eisenbahnzügen nach Österreich.'' In seinem 1945/46 verfassten und nicht publizierten Manuskript „Im Schatten des Hochschwab“ schildert Josef Martin Presterl den Schmuggel von illegaler Literatur nach Österreich. Auf dem Marburger Bahnhof herrschte reges Treiben. Janschitz probierte noch einmal, ob sich die Schiebetüren des Dienstwagens wohl gut schließen ließen und atmete erleichtert auf. Alles schien gut zu gehen. Die Flugblätter waren versteckt und in einigen Stunden würden sie schon in den Händen seiner Freunde sein. Solche Kurierfahrten machte er oft und da er meist die Strecke Marburg-Wolfsberg fuhr, konnte er sie sehr gut mit seinem Dienst verbinden. Eben hatte der Stationsvorstand das Zeichen zur Abfahrt gegeben und schon setzte sich die Lokomotive langsam in Bewegung, als plötzlich wieder das Haltsignal ertönte. Noch befand sich der Zug innerhalb des Bahnhofes und neugierige Reisende eilten herbei, um zu schen, was es plötzlich Neues gäbe. Polizisten erschienen auf dem Bahnsteig und sperrten alle Ausgänge ab. » Was gibt es?“, fragte Janschitz einen vorbeieilenden Eisenbahner. „Razzia?“ Der Gefrage aber zuckte mit den Schultern und ging an ihm vorbei. Er wusste es nicht. Überhaupt niemand wusste es. Vielleicht suchte man irgendeinen Hochstapler. Nun wurde jeder Waggon mit peinlicher Genauigkeit durchsucht. Als die Polizisten zum Dienstwagen kamen, fragte einer überraschend: „Haben Sie Flugblätter bei sich?“ „Nein!“, erwiderter Janschitz mit gepresster Stimme, „wo soll ich Flugblätter hernehmen? Hier gibt es keine Reisenden, wir führen Post und Pakete.“ „Das werden wir ja feststellen!‘, brummte der Frager von vorhin. „Die österreichischen Kommunisten in Marburg arbeiten mit Hochdruck.“ Janschitz behielt die Schiebetüre im Auge. „Wenn sie nur nicht die Flugblätter entdecken! — Dann wäre alles verloren!“ Aber die Polizisten gingen immer wieder daran vorbei. Einer lehnte sich sogar an die breiten starken Türenbretter und rauchte eine Zigarette dabei. Sie fanden nichts. Dann verließen sie den Wagen. Die Kontrolle war beendet und Janschitz atmete erleichtert auf. — Das leise Rattern des anfahrenden Zuges löste einen schweren Druck von seinem Herzen. Als die letzten Häuser immer kleiner wurden und plötzlich ganz verschwanden, überlegte Janschitz, ob er nicht die Flugblätter aus dem Zug werfen soll? Man hegte schon Verdacht und wird bestimmt die Grenzwache alarmiert haben. Neue Kontrollen, neue Fragen, stundenlang. Musste man da nicht vorbeugen? Er achtete nicht auf die schöne Landschaft, die draußen im raschen Fluge vorbeizog und dachte nur den einen Gedanken: Wird man die Flugblätter finden? An der Grenze geschah aber nichts und in St. Paul warteten schon einige Eisenbahner auf dem Bahnsteig, die er kannte. „Hast Du was mitgebracht?“ „Ja!“, nickte Janschitz und schob, nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, mit dem gleichgültigsten Gesicht die Türe zurück. „Ihr könnt das Material gleich übernehmen.“ Die Eisenbahner traten an den Gepäckswagen heran. „In Marburg wurde der Zug durchsucht“, sagte er leise, „gebt Acht, dass Euch niemand folgt!“ Dann reichte er ein Paket nach dem anderen hinaus und mischte seine Flugblätterbündel dazwischen.” Die Sozialdemokratische Partei hat sich — wie Otto Leichter berichtete! — auch kurzzeitig überlegt, in Marburg die Arbeiter-Zeitung für die Steiermark zu drucken, doch dürfte es sich hierbei nur um Überlegungen gehandelt haben, da kein weiterer Hinweis, weder seitens der Behörden noch der sozialdemokratischen Funktionäre, vorliegt. Leiter der Auslandsstelle der Sozialdemokratischen Partei bzw. der Revolutionären Sozialisten in Marburg war zwischen 1934 und 1938 Hans Hladnik.'* Dieser Stützpunkt wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 schließlich zu einer Drehscheibe der kommunistischen Exilorganisation. Auslandsstützpunkte Marburg 1938/39 Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland hatten sich die Bedingungen für den Widerstand im Land geändert, wie auch die Stützpunkte im Ausland neue Funktionen erhielten. Während die Sozialdemokratische Partei bzw. die Revolutionären Sozialisten als Organisation einen zentral ausgerichteten Widerstand im Land wie während der Zeit des Austrofaschismus ablehnten, rief die Kommunistische Partei zu diesem auf.’ Um diesen zu koordinieren, sollten rings um Österreich Stützpunkte errichtet werden. Aus diesem Grund wurde Willi Scholz, der zwischen 1936 und 1938 in der Sowjetunion gewesen war, im April 1938 von Moskau nach Brünn zu Otto Bauer geschickt. Ich ging damals zu Otto Bauer nach Brünn, weil wir einen Plan der illegalen Arbeit verwirklichen wollten. Und zwar war unser Plan, 1-2/2010 45