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Heimo Gruber Gefühl für Gefahr Herta Reich und der „Kladovo-Transport“ Herta Reich (geb. Eisler) wurde 1917 in Mürzzuschlag geboren und lebt heute in Jerusalem. Nach Gestapohaft und anschließender Vertreibung durch die Nationalsozialisten im Sommer 1938 durchlitt sie die sechsjährige Odyssee einer dramatischen Flucht mit mehreren Stationen des Scheiterns, ehe sie 1944 das rettende Palästina erreichen konnte. Fünf Jahrzehnte danach hat sie ihre Fluchterinnerungen aufgezeichnet, die der Grazer Historiker Heimo Halbrainer unter dem Titel Zwei Tage Zeit, um zwanzig Jahre meines jungen Lebens zurückzulassen im Band Zwei Tage Zeit. Herta Reich und die Spuren jüdischen Lebens in Mürzzuschlag (Graz: Clio 1998) herausgegeben hat. 2009 ist im Jerusalemer Carmel Publishing House eine von Ronny Reich unter Mitwirkung von Dana Reich ins Hebräische übersetzte Ausgabe des Buches erschienen. In diesem einzigartigen autobiografischen Dokument beschreibt Herta Reich zu Beginn die demütigende, entfesselte Gewalt in Österreich, gescheiterte Fluchtversuche nach Holland und Belgien und die verzweifelte Rückkehr in das Wien des Novemberpogroms 1938. Im November 1939 konnte sie sich endlich einem illegalen Transport nach Palästina auf dem Schiffsweg über die Donau anschließen. Dieser ist unter dem Namen „Kladovo-Iransport“ in die Geschichte eingegangen und von Gabriele Anderl und Walter Manoschek umfassend erforscht, in seiner erschütternden Tragik dokumentiert und der Vergessenheit entrissen worden (Gescheiterte Flucht. Der „Kladovo-Iransport“ aufdem Weg nach Palästina 19391942. Wien: Mandelbaum 2001; Erstauflage 1993). Im Herbst 1939 verschärfte Adolf Eichmann von der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ den persönlichen Druck auf den Wiener Vertreter des Hechaluz (Organisation für die praktische Vorbereitung auf die Einwanderung nach Erez Israel) und des Mossad (Abteilung innerhalb der Selbstschutzorganisation Hagana zur Organisierung der illegalen Immigration). Die forcierte Vertreibungspolitik der Nazis — bei gleichzeitiger restriktivster Limitierung legaler jüdischer Auswanderung nach Palästina durch die Mandatsmacht Großbritannien - schuf ein Dilemma, das die Verantwortlichen dazu bewog, eine größere, altersmäßig und sozial heterogen zusammengesetzte Gruppe von Menschen außer Landes zu bringen, obwohl für die Flucht über die Donau an der Mündung im Schwarzen Meer noch kein Hochseeschiff zur Weiterbeförderung bereitstand. Waren anfangs 822 Personen aus Wien abgereist, so stießen in der Folge immer wieder neue Flüchtlingsgruppen dazu, sodass die Schicksalsgemeinschaft auf der letzten Station in Sabac geschätzte 1400 Menschen umfasste. Die Einschiffung auf ein DDSG-Schiff erfolgte in Bratislava. Nach der Weigerung der DDSG, wegen des fehlenden Hochseeschiffes die Fahrt fortzusetzen, wurden die Passagiere auf drei Schiffe der nationalen jugoslawischen Schifffahrtslinie transferiert. Diese waren von Sime Spitzer, dem Generalsekretär des „Verbandes der jüdischen Gemeinden des Königreichs Jugoslawien“ gechartert worden. Der jüdische Gemeindeverband Jugoslawiens hatte durch die anschwellenden Flüchtlingsströme aus dem Machtbereich der Nazis große zusätzliche materielle Fürsorgeleistungen zu erbringen. Der „Kladovo-Transport“ bürdete seinem General50 ZWISCHENWELT sekretär Spitzer auch ein hohes Maß an Mitverantwortung für die Organisierung der Weiterfahrt auf. Ein und ein halbes Jahr ihrer Flucht — von Dezember 1939 bis Juni 1941 — hat Herta Eisler-Reich in Jugoslawien verbracht. Zuvor hatte sie in Wien ihre Familie wiedergesehen, die im Jänner 1939 aus Mürzzuschlag vertrieben wurde, nachdem ihr der letzte Besitz abgepresst worden war. Dem Bruder Erich Eisler (der im Gefolge des Novemberpogroms gemeinsam mit seinem Vater in das KZ Dachau transportiert wurde) gelang noch 1939 die Ausreise nach Dänemark. Herta Eisler fand Zuflucht im Wiener Stadtkibbuz, von wo sie auf ein Hachschara-Lager (landwirtschaftliche Ausbildung) nach Moosbrunn geschickt wurde. Dort kam sie in Kontakt zu jungen Menschen mit dem Fluchtziel Palästina. Als es am 25.November 1939 so weit war, musste sie sich von den Eltern Käthe und Ignaz Eisler und der Schwester Lilly trennen: Der Abschied war erschiitternd. Ich musste die Eltern und Schwester bei diesen grauenhaften Mördern zurücklassen. Die Eltern waren glücklich, dass ich wegfahren konnte, glaubten, wie auch wir alle, dass das die Rettung sei. Ein Jahr später fuhren meine Eltern und Schwester in ein anderes Unglück. Die Hoffnung auf Rettung erlitt bereits Ende Dezember 1939 einen schweren Rückschlag, als Rumänien den drei jugoslawischen Donauschiffen wegen der noch ungeklärten Weiterfahrt die Durchreise verweigerte. Zudem sollte auch der beginnende Eisgang des Stromes eine Einweisung der Schiffe in den jugoslawischen Winterhafen von Kladovo in der Nähe des Eisernen Tores notwendig machen. Herta Reich erinnert sich: Wir überwinterten auf den primitiven Schiffen, die in der Donau einfroren. Das Wasser in den paar Duschen fror ebenfalls ein. Das Trinkwasser holte man aus dem Eis der Donau. Fast alle bekamen Dysenterie, Läuse und Skabies. Das Essen bekamen wir vom Land gebracht. Es wurde von den jugoslawischen Juden irgendwie organisiert. Jeden Tag dasselbe: Zweimal täglich Tee mit Schnaps, einmal Nudeln mit Powidl, abwechselnd mit faschiertem Fleisch. Die Menschen bekamen Skorbut, ich hatte eine schwere Furunkulose am ganzen Körper aus Vitaminmangel. Wir warteten. Aufs Frühjahr, auf ein bisschen Sonne und Wärme.” In dieser Situation konnten selbst kleine Gegenstände des Alltags das Gefühl des Verlustes und des Verlorenseins verstärken: Eines Tages zerbrach meine einzige Nähnadel. Es gab einfach keine mehr auf allen drei Schiffen. Das war damals ein großer Verlust. Im April 1940 stießen zwanzig junge Polen zum „Kladovo-Iransport“, die für das weitere Leben und Überleben von Herta Eisler entscheidend werden sollten. Die Gruppe hatte eine dramatische Flucht kreuz und quer durch Osteuropa hinter sich. Darunter befand sich auch Hertas späterer Ehemann Romek Reich. Nachdem die jugoslawische Schifffahrtsgesellschaft auf die Räumung der drei Dampfer drängte, übersiedelten die Flüchtlinge teils in ein Baracken- und Zeltlager an Land oder - darunter auch Herta Eisler — auf den griechischen Schleppkahn „Penelope“: